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Musikalität - ein Produkt der Evolution?  
  Dass Musik eine starke Wirkung auf Körper und Psyche hat, haben zumindest Musikliebhaber schon immer angenommen. Die Neurowissenschaft hat diese Vermutung nun auf breiter Front bestätigt. Eine neue Studie konnte zudem nachweisen, dass das Gehirn auf Musik automatisch reagiert. Dies lässt den Schluss zu, dass es im Hirn angeborene Strukturen für die Bearbeitung von Musik gibt. Daran schließt sich allerdings die Frage: Haben solche Strukturen auch einen evolutionären Sinn? Beziehungsweise: Haben diese tatsächlich den Überlebenswert unserer Vorfahren gesteigert?  
Schon Aristoteles wusste es: "Im Wesen der Musik liegt es, Freude zu machen." Aus Sicht der Neurowissenschaften kann die Diagnose des alten Griechen nur bestätigt werden. Wie Penelope Lewis von der Universität Oxford in einem Übersichtsartikel zeigt, erstrecken sich die Wirkungen der Musik auf weite Bereiche des Körpers und der Psyche.
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"Musical Minds"
Das Review "Musical Minds" von Penelope Lewis erschien in der aktuellen Ausgabe des Journals "Trends in Cognitive Sciences" (Band 6, Nummer 9, auf den Seiten 364-366).
->   Zum Artikel
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Musik beeinflusst den Körper und Geist
So konnte unter anderem nachgewiesen werden, dass musikalischer Hörgenuss mit einer Reihe von Emotionen verbunden ist. Dies hat auch seine Entsprechung in körperlicher Hinsicht:

Die Reaktionen reichen von einfachen physiologischen Effekten (Änderung des Blutdrucks, des Hautwiderstandes oder der Atemrate) bis zu körperlichen Anzeichen auf "höherer" Stufe (Tränenbildung, Zittern sowie der sprichwörtliche "Frosch im Hals").
->   science.ORF.at: Musik macht glücklich
Musikalität: Lern- oder Evolutionsprodukt?
Doch war bis dato eine Frage offen: Worin besteht der "missing link" zwischen dem musikalischen Input und der emotionalen Antwort der Testperson? Zwei Antworten auf diese Frage sind möglich:

Die Reaktionen des Gehirns könnten sich erst durch Übung und den regelmäßigen Umgang mit der Musik herausbilden. Es wäre aber auch möglich, dass die Reaktionen auf grundlegenden Eigenschaften der Hirnarchitektur basieren.
Lernen ist nicht notwendig
Eine im April dieses Jahres erschienene Studie legt nahe, dass Letzteres der Fall ist. Laurel Trainor und ihre Mitarbeiter von der kanadischen McMaster University fanden heraus, dass die Wahrnehmung gewisser Eigenschaften von Melodien (z.B. der relativen und absoluten Tonhöhe) vom Gehirn automatisiert bearbeitet wird. Dies war auch der Fall, wenn die Testpersonen kein musikalisches Training absolviert hatten.
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"Processing of melodic information"
Die Studie "Automatic and controlled processing of melodic contour and interval measured by electrical brain activity" von Laurel Trainor et al. erschien im "Journal of Cognitive Neuroscience" (Band 14, Seiten 430-442).
->   Zum Abstract des Artikels
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Vorlieben: Musik schlägt Sex
Demnach ist also die Fähigkeit zur Verarbeitung musikalischer Inhalte eine grundlegende und allgemein verbreitete Eigenschaft menschlicher Gehirne.

Angesichts dessen nimmt es auch nicht Wunder, dass der Umsatz der Musikindustrie jenen der pharmazeutischen Industrie übersteigt - und Menschen sogar mehr Zeit zum Musikhören als für Sex aufwenden, wie Penelope Lewis in ihrem "Review" berichtet.
"Anpassungswert" der Musik?
Diese Ergebnisse werden auch durch ethnologische Studien bestätigt: In urtümlichen menschlichen Gesellschaften des Jäger und Sammler-Typus wenden erwachsene Männer etwa zwei Stunden täglich auf, um sich rituellen Gesängen hinzugeben.

Allerdings wird dadurch folgende Frage aufgeworfen: Kann Musikalität mit den Begriffen der Evolutionsbiologie beschrieben werden? Oder anders ausgedrückt: Was ist der adaptive Wert einer solchen Begabung?
Musik erhöht Gruppenharmonie
Penelope Lewis diskutiert in ihrem Artikel einige Antworten: So wurde z.B. vermutet, dass die Fähigkeit zu musikalischer Betätigung mit der Entwicklung der Sinne und der Motorik zu tun habe. Die am weitesten akzeptierte Hypothese zielt aber auf die sozialen Bedingungen der menschlichen Evolution ab.
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Die Hypothese: Musik als sozialer "Kitt"
Diese besagt, dass musikalische Akte deswegen von Vorteil seien, weil sie zu einer erhöhten Harmonie der sozialen Kleingruppen führen. Mit anderen Worten, Musik bereitet nicht nur Freude, sie hat auch einen evolutionären "Sinn" - denn gemeinsames Singen und dergleichen wirkt als sozialer "Kitt".
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Bestätigungen durch Hormonforschung ...
Diese Hypothese riecht zwar ein wenig nach Biologismus, es gibt aber tatsächlich empirische Hinweise, die sie unterstützen. So konnte z.B. gezeigt werden, dass Musikgenuss bei Männern zu einer Reduzierung des Hormons Testosteron führt.

Dies ist deswegen von Interesse, weil Testosteron wiederum mit aggressivem Verhalten korreliert. Ähnliche Zusammenhänge fand man auch bei der Untersuchung von Stresshormonen.
... und Neurobiologie
Am überzeugendsten ist in diesem Zusammenhang wohl die Erforschung von Botenstoffen im Gehirn, den so genannten Neurotransmittern. Es gibt Hinweise darauf, dass Musikhören zu einer Steigerung der Oxytocin-Ausschüttung führt.

Dieser Befund weist eine direkte Verbindung zum Sozialverhalten auf: Denn Verhaltensforscher wissen schon seit längerer Zeit, dass der Stoff Oxytocin zu erhöhten sozialen Bindungen zwischen Mutter und Kind, Sexualpartnern und Mitgliedern von sozialen Gruppen führt.
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Über die Kunst des Hörens (Konrad Paul Liessmann)
->   Profimusiker haben mehr graue Zellen
->   Musikgeschmack: Eine Frage des Sozialstatus?
->   Noten und Neuronen
 
 
 
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01.01.2010