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Umbrüche der Arbeitswelten im 19. Jahrhundert  
  Vergangene Woche hat in Salzburg der 23. Österreichische Historikertag stattgefunden. Heimische Geschichtswissenschaftler boten unter dem Titel "Mensch und Arbeit: Umbrüche - Wandel - Kontinuitäten" eine Zusammenschau ihrer Forschungsergebnisse zu den Umbrüchen der Arbeitswelten. Ein Fazit: Die Lebenswelten arbeitender Menschen veränderten sich bereits im 19. Jahrhundert - dem Jahrhundert von Industrie, Kolonialismus und erster "Globalisierungswelle" - in Windeseile. So gab es auch vor 150 Jahren Aufsteiger und Modernisierungsverlierer, Wachstumsbranchen und "Massenfreisetzungen".  
"Anreiz zur Arbeit war, an den Segnungen der beginnenden Konsumgesellschaft teilhaben zu können", sagt der Linzer Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber.

"Im 18. Jahrhundert waren das Kaffee und vielleicht eine Taschenuhr, im 19. Jahrhundert Einrichtungsgegenstände für die Wohnung - oder überhaupt eine eigene Wohnung - und im 20. Jahrhundert dann das Automobil."
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Konsum als einziger Motor der Arbeit?
Wenn man Roman Sandgruber zuhört, könnte man annehmen, dass seit runden einhundertfünfzig bis zweihundert Jahren Konsum der einziger Motor der Arbeit ist. Dass darin viel Wahrheit liegt, bestritt wohl keiner der am Historikertag versammelten Wissenschaftler.

Doch Konsum reicht nicht aus, um zu erklären, warum die Neuzeit die Arbeit praktisch verherrlicht und zu einem zentralen ethischen Wert gemacht hat. Noch im 17.Jahrhundert hatte der englische Philosoph und Politiker John Locke gemeint: "Arbeit um der Arbeit willen ist gegen die Natur." Zweihundert Jahre danach dachte kaum mehr ein maßgeblicher Politiker so. Das "Recht auf Faulheit" zu fordern blieb dem Sonderling und Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue vorbehalten.
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Das Ende der "faulen Masse"
Das 19. Jahrhundert markiert das Ende der von den Nationalökonomen bis dahin so gerne als arbeitsscheu angesehenen "faulen Masse". Kunstvoll wurde der Fleiß im heutigen Sinn konstruiert.

Als "fleißiges Zeitalter" bezeichnet Roman Sandgruber indes schon das vorhergehende, das aufgeklärte 18. Jahrhundert, in dem sich trotz des letzten Aufbäumens der spätfeudalen Herrschaft der Aristokratie die Erkenntnis durchsetzt, dass nicht Herkunft, sondern Leistung durch Arbeit die Wertigkeit des Menschen bestimmt.

Das 19. Jahrhundert sei hingegen das Zeitalter der Industriellen Revolution, der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft - zu Beginn des Jahrhunderts bis zu 80 Stunden in der Woche. Es ist aber auch das Jahrhundert, an dessen Ende erste soziale Errungenschaften wie die Krankenversicherung stehen.
Die "Heilsprämie" des Protestantismus
Die Voraussetzungen für all das liegen in der frühen Neuzeit, legte der Salzburger Historiker Josef Ehmer in seinem Eröffnungsvortrag dar und berief sich dabei auf den Universalgelehrten der Zeit um 1900, Max Weber:

"Eine lebensumwälzende Macht sah Weber im Protestantismus, der für rastlose Arbeit für Gottes Ruhm und für methodisch rationale asketische Lebensführung eine religiös fundierte 'psychologische Prämie' bot, eben die Heilsprämie, die individuelle Antriebe freisetzte."
Nur der arbeitende Mensch ist ein "Vollmensch"
Der radikal-protestantische Puritanismus setzte ab dem 17. Jahrhundert mit seiner harten Arbeitsethik noch eins drauf - einer Ethik, die festhält, dass nur der arbeitende Mensch Vollmensch ist, und zwar geregelte und gleichförmige, keine unstete oder gar nur gelegentliche Arbeit.

Kulminationspunkt der geordneten Arbeit ist der Beruf. Dieses Konzept gilt zuvörderst für Männer. Bis ins 19. Jahrhundert hinein unterscheiden die Gelehrten genau und theoretisch zeitgemäß fundamentiert, welch unterschiedliche Voraussetzungen Männer und Frauen haben.
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Unterscheidung der Geschlechter
Einen aussagekräftiger papierener Zeuge der Zeit ist der "Brockhaus" von 1815, in dem zu lesen steht, dass der Mann im Schweiße seines Angesichts arbeite und danach der Ruhe bedürfe, wohingegen das Weib ständig geschäftig betriebsam sei - also im eigentlichen Wortsinn nicht arbeite.
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Der Mensch als Maschine
Die verschiedenen Formen des Sozialismus trieben die Menschenökonomie dann auf die Spitze - in der Theorie des 19. und in der folgenreichen Praxis des 20. Jahrhunderts. Nicht nur totalitäre Sozialisten nationaler oder internationaler Prägung sahen den Menschen gewissermaßen als Maschine.

Auch gemäßigte wie der mittlerweile legendäre Sozialdemokrat und Mediziner Julius Tandler, der Gesundheitsstadtrat des Roten Wien der Zwischenkriegszeit, kamen hier in die Nähe der damals modernen Rasseneugenik, schildert Josef Ehmer, und erwähnt einen Vortrag Tandlers im Jahr 1929, in dem der Sozialreformer meinte, dass nur voll arbeitsfähige junge Menschen der Förderung wert seien.
Pflicht zur und Recht auf Arbeit
Pflichterfüllung stand im Jahrhundert der Nationalstaaten und der Erweckung des Volksbegriffs an oberster Stelle: Pflicht zur Wehrhaftigkeit und zur Arbeit für Volk und Staat.

Aus diesem Zweischritt kam auch das militärische Vokabular, selbst der Arbeiterparteien: "Arbeitskampf", "Arbeitsschlacht" bis hin zu den so genannten "Arbeiter- und Soldatenräten" im Kommunismus und der "Arbeitsfront" im Nationalsozialismus.

Folgerichtig entstand in den Verfassungen, Nationalökonomien und politischen Bekenntnisschriften auch das Recht auf Arbeit. Je spezieller die Facharbeit wurde, desto stolzer war jener, der sie beherrschte und ausübte. Keine Arbeit zu haben wurde zur Schande.
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Arbeitslosigkeit und ihre Folgen
Wer dennoch durchfiel - und das waren viele - wurde bisweilen von privaten Stiftungen für Arbeitslose und Arbeitsunfähige aufgefangen, sagt die Wiener Rechtshistorikerin Gabriele Schneider, allerdings widmeten sich diese Stiftungen mehrheitlich den Gewerbetreibenden, kaum den Fabrikarbeitern.

Aus diesen und vielen anderen Mängeln und Nöten der Praxis zogen die Arbeiterbewegungen dann ihre Legionen hoch. Bloße Ideologie kam schon im 19. Jahrhundert weniger gut an, sagt Roman Sandgruber: "Der Marxismus hat die Mentalität der großen Masse der Arbeiter kaum beeinflusst - die war eher am Bürgertum orientiert." So kommt es, dass der verbürgerlichte Arbeiter des 19. Jahrhunderts selbst im Arbeitskampf mit Hut und Stock auftritt.
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Boomendes Aktiengeschäft - trotz Börsenkrach
Dass man auch anders, als durch eigenhändig erarbeitetes oder ererbtes Geld wohlhabend werden kann, wurde im 19. Jahrhundert erstmals breiteren Schichten bewusst. Der Bürger fing an zu sparen - was sich damals wegen hoher Zinsen lohnte -, wurde zum Aktionär, zum Rentier, oder gar zum Spekulanten.

Daran konnte auch der berüchtigte Börsenkrach von 1873 kaum etwas ändern, widerspricht der Linzer Wirtschaftshistoriker Michael Pammer dem Klischee des einzigartigen Schockerlebnisses Börsenkrach - zumindest für Österreich:

Der Schock sei schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Staatbankrott eingetreten, doch weder er, noch der Börsenkrach hätten das Aktiengeschäft dauerhaft zurückgehen lassen.
Die Industriekartelle blühen
Im angeblich nachhinkenden Österreich-Ungarn "boomen" Wirtschaft und Großindustrie. 1912 gibt es mehr als zweihundert große Industriekartelle in Österreich, bemerkt Andreas Resch, Wirtschaftshistoriker in Wien, etwa die Stahlkartelle.

Anti-Kartell-Gesetze waren hierzulande unbekannt. Erst 1951 musste Österreich auf Druck der USA ein solches erlassen, da die Supermacht sonst den Marshall-Plan ausgesetzt hätte.
Trendwende beim Ruhestand?
Fest steht: Im 19.Jahrhundert wurde die Arbeit immer unselbständiger, doch seit 1945 macht sich noch eine andere Tendenz bemerkbar: jene zur Arbeitszeitverkürzung womit auch ein positives und gesellschaftlich anerkanntes Bild des Ruhestandes auftauchte.

Das alles sind Neuerungen der späten Neuzeit, hinter die wir paradoxerweise im 21. Jahrhundert wieder zurückfallen könnten, meint Josef Ehmer festzustellen:

¿Früher ins Erwerbsleben einzutreten - wie man unseren Studenten predigt - und länger darin zu verbleiben - wie man es unseren Pensionisten sagt - ist im 21. Jahrhundert eigentlich ein Anachronismus, der nicht aus dem 19. oder 20. Jahrhundert stammt, sondern aus der Frühen Neuzeit."


Ein Beitrag von Martin Haidinger für die Sendereihe "Dimensionen" am 30.9. um 19.00 Uhr im Programm Österreich 1.
->   23. Österreichischer Historikertag - Programm
 
 
 
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01.01.2010