News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Kosmos .  Wissen und Bildung 
 
Mathematische Physik zur Berechnung von Galaxien  
  Das Wissen über die Entstehung und weitere Entwicklung von Galaxien ist nach wie vor beschränkt - Forschungen zu diesen Fragen sind allerdings längst nicht auf die Astrophysik beschränkt. Einen wichtigen Beitrag leistet auch die Mathematik, indem sie Berechnungen beispielsweise zur Stabilität von Galaxien anstellt. Warum dies so ist und welche Rolle dabei Differentialgleichungen spielen, beschreibt der Mathematiker Gerhard Rein in einem Gastbeitrag für science.ORF.at.  
Stabilität von Galaxien
Von Gerhard Rein, Institut für Mathematik der Uni Wien

Wenn man im Internet Bilder von den verschiedenartigsten Galaxien betrachtet, die beispielsweise mit dem Hubble-Teleskop aufgenommen wurden, wird man sich einer gewissen Faszination schwer entziehen können. Leider ist unser Verständnis dafür, wie eine Galaxie entsteht, wie sie sich entwickelt und was ihr weiteres Schicksal ist, weniger beeindruckend.
->   Hubble Space Telescope Public Pictures
Mathematische Modelle für die Evolution einer Galaxie
Da wir hierzu keine Laborexperimente durchführen können, sind wir darauf angewiesen, mathematische Modelle für die Evolution einer Galaxie zu entwickeln und aus diesen Modellen Voraussagen abzuleiten, die sich mit den Beobachtungsdaten vergleichen lassen.
Die Suche nach stationären Zuständen
Bei der Analyse eines Modells für ein physikalisches System - beispielsweise für eine Galaxie - ist die Frage nach so genannten stationären Zuständen wichtig, also Zuständen, in denen sich das System nicht mehr verändert. Wissenschaftler erwarten, dass sich ein System, wenn es schon lange existiert, in einem solchen stationären Zustand niedergelassen hat.

Allerdings werden keineswegs alle stationären Zustände, die ein Modell erlaubt, in der Natur auch realisiert. Dies können wir uns anhand eines einfachen Pendels klar machen - also einem Gewicht, das wie bei einer Pendeluhr an einem Stab um eine Achse drehbar aufgehängt ist.

Ein offensichtlicher stationärer Zustand ist der, in dem das Pendel senkrecht nach unten hängt, ohne sich zu bewegen. Ein zweiter, weniger offensichtlicher: Das Pendel ist genau senkrecht über der Achse balanciert. Bei einem realen Pendel kann man allerdings den zweiten Zustand kaum beobachten.
...
Stabile und instabile stationäre Zustände
Woran liegt es, dass man bei einem realen Pendel zwar den ersten, nicht aber den zweiten Zustand beobachten kann? Selbst wenn es gelingt, ein reales Pendel so sorgfältig auszubalancieren, dass es senkrecht über der Achse steht, führt die geringste äußere Störung - jemand hustet, die Katze läuft an der Pendeluhr vorbei, ganz zu schweigen von der Tram, die vor dem Haus vorbeirattert - dazu, dass das Pendel auf die eine oder andere Seite kippt und in eine heftige Schwingung gerät. Ganz anders, wenn das Pendel senkrecht nach unten hängt: Eine kleine Störung führt dann dazu, dass es leicht, vielleicht unmerklich um die vorherige Ruhelage schwingt.
...
Nur stabile Zustände sind von Dauer
Physiker oder Mathematiker nennen den einen stationären Zustand stabil, den anderen instabil. Und nur stabile stationäre Zustände werden in der Natur auf Dauer realisiert. Bei einem Pendel ist das alles ohne mathematischen Aufwand einsichtig.

Bei einer Galaxie dagegen ist weniger offensichtlich, welche stationären Zustände es überhaupt gibt - und erst recht, welche davon stabil sind und also für die Beschreibung realer Galaxien in Frage kommen.
Weitere Analogien mit dem Pendel
Trotzdem hilft die Analogie mit dem Pendel noch ein Stück weiter: Einem Pendel können wir eine Energie zuordnen (Bewegungsenergie plus potentielle Energie) - und wenn wir von Reibungskräften absehen, bleibt diese Energie zeitlich konstant.
Minimalzustand der Energie
Unter allen möglichen Zuständen eines Pendels ist die Energie dann am kleinsten, wenn das Pendel in Ruhe ist und senkrecht nach unten hängt. Aus dieser Minimalität der Energie folgt die Stabilität dieses Zustands:

Das Pendel kann sich von diesem Zustand nur dann entfernen, wenn ihm ausreichende Energie zugeführt wird. Demgegenüber ist die Energie in dem senkrecht nach oben balancierten Zustand nicht minimal, sondern sie hat dort einen so genannten Sattelpunkt, aus dem sich das Pendel entfernen kann, ohne seine Energie zu ändern.
Anwendbar auch auf Galaxien
Dieses grundlegende Prinzip, nach stationären Zuständen zu suchen, die die Energie des Systems minimieren, und dann daraus deren Stabilität zu folgern, lässt sich auch auf Galaxien anwenden.

Ein wesentlicher Unterschied, der es trotz aller Analogien schwerer macht, eine Galaxie zu analysieren als ein Pendel, ist folgender: Ein Pendel ist ein System mit endlich vielen (genauer: zwei) Freiheitsgraden.

Um seinen Zustand eindeutig festzulegen, reichen zwei Zahlen: der Auslenkungswinkel und dessen Änderungsgeschwindigkeit, wohingegen eine Galaxie - jedenfalls in den gängigen Modellen - ein System mit unendlich vielen Freiheitsgraden ist.
Galaxien-Modell per Differentialgleichung
Um zumindest einige wenige mathematische Fachausdrücke einzustreuen: Das mathematische Modell für ein Pendel besteht aus einer gewöhnlichen Differentialgleichung, das Modell für eine Galaxie besteht aus partiellen Differentialgleichungen.

Letztere sind im allgemeinen mathematisch schwerer zu behandeln - insbesondere, wenn sie, wie im Fall einer Galaxie, nichtlinear sind. In der wissenschaftlichen Literatur wird die Stabilität von Galaxien spätestens seit Anfang des letzten Jahrhunderts diskutiert, als der britische Astronom Sir James Jeans diese Frage untersuchte.

In Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Yan Guo von der Brown University, U.S.A., ist es mir in den letzten Jahren gelungen, für das von Jeans verwendete Modell mathematisch exakt zu beweisen, dass gewisse stationäre Zustände einer Galaxie die Energie minimieren (unter gewissen, physikalisch motivierten Nebenbedingungen), und daraus ihre Stabilität zu folgern.
...
Der mathematische Beweis in Einzelschritten
Zunächst zeigen wir, dass die Energie als Funktion auf der Menge aller relevanten Zustände nach unten beschränkt ist; da sich die Energie aus der positiven kinetischen und der negativen potentiellen Energie zusammensetzt, ist schon dies nicht von vornherein offensichtlich. Die wesentliche Schwierigkeit ist dann zu zeigen, dass es tatsächlich einen Zustand gibt, wo diese untere Schranke der Energie auch angenommen wird - die Unterscheidung zwischen einem Infinum und einem Minimum hat in der Geschichte der Mathematik eine wesentliche Rolle gespielt und bereitet den Studierenden im ersten Semester noch heute bisweilen Kopfzerbrechen.

Diese Schwierigkeit wird in unserem Fall durch ein geeignetes Kompaktheitsargument überwunden. Ein allgemeines Prinzip der Variationsrechnung - die Euler-Lagrange-Gleichung - sagt uns dann, dass der Zustand, der die Energie minimiert, tatsächlich ein stationärer Zustand des Models ist. Schließlich folgt aus seiner minimierenden Eigenschaft die Stabilität dieses Zustands, im Prinzip so wie das oben schon für das Pendel angedeutet wurde.
...
"Handfeste" Gründe für Stabilitätsanalysen
Stabilitätsanalysen lassen sich aber auch durch wesentlich "handfestere" Gründe als durch wissenschaftliche Neugier - und Faszination an Aufnahmen des Hubble Teleskops - motivieren. Ein Beispiel bietet Explorer 1, ein Satellit, der 1958 in eine Erdumlaufbahn gebracht wurde.
Teurer Schrott im Weltall
Um auf der Umlaufbahn seine Orientierung im Raum konstant zu halten, wurde der Satellit in Rotation um seine Symmetrieachse versetzt. Leider hatten die Ingenieure übersehen, dass die Rotation um diese Achse instabil war. Der Satellit geriet prompt ins Trudeln und torkelt wohl noch heute als nutzloses und teueres Stück Schrott um die Erde.

Beim Design des Nachfolge-Satelliten Alouette führte eine entsprechende Stabilitätsanalyse zu einer ganz anderen geometrischen Form des Satelliten, und dieser tat seinen Dienst "stabil" und wie geplant.
...
Beispiel Fusionsforschung: Stabile Zustände von Plasma
Ein anderes Beispiel für die Relevanz von Stabilitätsuntersuchungen stammt aus der Fusionsforschung: Wie muss ein Fusionsreaktor beschaffen sein, damit er das Plasma in seinem Inneren über einen gewissen Zeitraum in einem stabilen Zustand halten kann? Diese Frage wird seit den fünfziger Jahren von Plasmaphysikern und Mathematikern diskutiert. Sollte jemals ein solcher Reaktor gebaut werden - ob man das für wünschenswert hält, ist eine andere Frage - so wird sicher eine Menge mathematischer Forschungsarbeit in die entsprechende Stabilitätsanalyse geflossen sein.
...
Die Natur bevorzugt bestimmte Zustände
Ob es sich nun um ein Pendel, ein Plasma, oder eine Galaxie handelt, die Stabilitätsanalyse eines physikalischen Systems beruht oft auf einem grundlegenden Prinzip: Die Natur bevorzugt Zustände, die die Energie minimieren. Die damit verbundene Mathematik hat einerseits eine lange Tradition und wirft andererseits nach wie vor spannende Fragen auf.
...
Informationen zum Autor
Gerhard Rein ist Professor am Institut f¿r Mathematik der Universit¿Wien sowie Mitglied des Wiener Wolfgang-Pauli-Insituts (WPI). Sein Forschungsschwerpunkt ist die so genannte mathematische Physik. Einige Publikationen j¿ngeren Datums:

"Stability of Spherically Symmetric Steady States in Galactic Dynamics against General Perturbations", erschienen im Fachjournal "Archive for Rational Mechanics and Analysis" (Bd. 161, Seiten 27-42, 2002). Abstract des Artikels

"Isotropic Steady States in Galactic Dynamics", zusammen mit Yan Guo, erschienen im Fachjournal "Communications in Mathematical Physics" (Bd. 219, Seiten 607-629, 2001). Abstract des Artikels

"Stable Steady States in Stellar Dynamics", zusammen mit Yan Guo, erschienen im Fachjournal "Archive for Rational Mechanics and Analysis" (Bd. 147, Seiten 225-243, 1999). Abstract des Artikels
->   Homepage Gerhard Rein
...
->   Institut für Mathematik der Universität Wien
->   science.ORF.at: Die Netzwerke(r) vom Wolfgang-Pauli-Institut
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Kosmos .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010