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Warum das Wilde verdrängt wird  
  Tiere sind in unserem Alltag trotz Industriegesellschaft und Zivilisation nach wie vor präsent. Auch wenn sie nicht als Haustiere in unseren eigenen vier Wänden leben, sehen wir sie auf der Straße, in den Medien oder im Tiergarten. Warum man trotzdem zu der Ansicht gelangen kann, dass das Tierische aus unserem Leben verschwindet, argumentiert Michael Jaksche in seiner Seminararbeit "Die Verdrängung des Wilden", nachzulesen im Uni-Portal "mnemopol.net", die science ORF.at mit einer Rezension vorstellt.  
Tiere als autonome Gefährten
rezensiert von Thomas Müller, mnemopol.net

Die These vom Verschwinden der Tiere wurde vom britischen Schriftsteller John Berger in seinem Essay "Warum sehen wir Tieren an?" (1980) formuliert. Ein Blick in die Geschichte des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier zeigt, dass der Mensch heute in einem Dilemma ist: Er will das bedrohlich Wilde verdrängen, aber sucht trotzdem die Partnerschaft zu Tieren.
Verwandtschafts-Verhältnisse
In der vorzivilisatorischen Zeit und bei den Naturvölkern bis in die Gegenwart gab es diese Problematik noch nicht. Die Menschen sahen zwar den Unterschied zwischen sich selbst und den Tieren, aber spürten noch eine gewisse Verwandtschaft zu ihnen, die sich unter anderem in der Religion ausdrückte.

Tiere waren Gegenstand kultischer Verehrung wie das bei Freud erwähnte Totemtier, das praktisch ein Stammesmitglied war und dessen Tötung nur nach Entschuldigungs- und Sühneritualen gestattet war.
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Gemeinsamkeiten von Tier und Mensch
Tiergottheiten sind in Naturreligionen der Vergangenheit und Gegenwart weit verbreitet. Noch bei Aristoteles ist von einer Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier die Rede, die beide die Fähigkeit der Unterscheidung und damit der Wahrnehmung gemeinsam haben.
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Körper und Geist
Der endgültige Bruch mit dieser Sicht des Tieres kam mit der Moderne und René Descartes. Dieser behauptete die Trennung zwischen Körper und Geist, wobei der Geist nur dem Menschen vorbehalten sein sollte.

Damit verlief die Grenze zwischen Mensch und Tier innerhalb des Menschen selbst, der aus einem "tierisch-instinktiven" Körper bestand, der von einem menschlichen Geist beherrscht wurde.
Versuch einer Überbrückung
Das Tier war für Descartes ein rein instinktiver "Automat". Nicht nur das Tier wird dem Menschen dadurch entfremdet, auch der Mensch sieht sich als Fremdkörper in einer idealisierten, "unberührten" Natur. Gleichzeitig begann die Ära der großen Tiergärten, was auch als Versuch gesehen werden kann, diese Entfremdung wieder zu überbrücken.
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Tabus
Dass die Verwandtschaftsbeziehung eine noch vorhandene aber geleugnete ist, zeigt Jaksche an Hand des Beispiels der industriellen Schlachtung. Diese ist ein Prozess, der abseits der Öffentlichkeit abläuft und von dieser auch verdrängt wird. Wird dieses Tabu gebrochen, wie es Hermann Nitsch 1998 in seinem 6-Tage-Spiel bei einer Schlachtungsperformance getan hat, ist die "Volksseele" entsetzt.
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Tiere ohne das Wilde
Dass wir uns mit Tieren umgeben, die wir um keinen Preis schlachten würden, weil wir emotionale Bindungen an sie haben, zeigt, dass das Bedürfnis nach Beziehungen zu Tieren vorhanden ist. Sie suggerieren etwas Ursprüngliches und Natürliches - das ohne menschliche Fehler ist.

Gleichzeitig haben wir Angst vor dem Wilden, Unberechenbaren und Unkontrollierbaren in Tieren ( und in uns selbst). Die Tierphobien, die viele Menschen haben und die schon bei unzähligen Horrorfilmen ausgeschlachtet wurden, sind ein Ausdruck dieser Furcht,die durch den berechtigten Zweifel am Sieg über das Wilde entsteht.
Vermenschlichung
Um nun trotzdem eine Beziehung zu Tieren aufbauen zu können, müssen sie vermenschlicht und verniedlicht werden. Erst eine Abhängigkeit vom Menschen wie bei Zoo- oder Haustieren lässt im Bergerschen Sinne das Wilde scheinbar verschwinden, und damit das, was das Tierische erst ausmacht.
->   Die Seminararbeit auf mnemopol.net
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Der Autor
Michael Jaksche beendet derzeit sein Philosophie-Studium an der Universität Wien. In seiner Diplomarbeit mit dem Titel "Subjekt als reflexive Wendung" hat er sich mit Judith Butlers Subjektivations-Theorie auseinandergesetzt, die diese in den Büchern "Das Unbehagen der Geschlechter", "Körper von Gewicht" und "Psyche der Macht" entwickelt. Seit Oktober 2002 arbeitet er als
Zivildiener in einem Drogenberatungszentrum.
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->   Weitere Beiträge aus der Reihe "mnemopol.net"
->   Mehr über mnemopol.net
 
 
 
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01.01.2010