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ORF ON Science :  News :  Umwelt und Klima 
 
Polit-Wende: "Großexperiment" für Klimaforscher  
  Seit dem Ende des Kalten Kriegs steigen die Temperaturen in Mitteleuropa noch rascher - so kann man die Ergebnisse einer neuen Studie zusammenfassen. Die - kontroverse - Analyse der Wissenschaftler: Der massive Wegfall von Emissionen durch die Stilllegung und Sanierung veralteter Industrieanlagen in der DDR sowie in Tschechien und Polen als klimatisches "Großexperiment" hat demnach zu einem Temperaturanstieg durch den Treibhauseffektes geführt. Dabei spielen so genannte Aerosole - kleinste Schwebeteilchen in der Luft - eine gewichtige Rolle.  
Hartmut Graßl, Direktor am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie, und Olaf Krüger vom Meteorologischen Institut der Universität Hamburg haben ihre Ergebnisse aus einer fast zwanzigjährigen Satelliten-Messreihe herausgefiltert und in der Fachzeitschrift "Geophysical Research Letters" veröffentlicht.
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"The indirect aerosol effect over Europe"
Der Artikel "The indirect aerosol effect over Europe" von Hartmut Graßl und Olaf Krüger ist erschienen in den "Geophysical Research Letters" vom 10. Oktober 2002 (doi: 10.1029/2001GL014081).
->   Geophysical Research Letters
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Ursache: Der "Gorbatschow-Effekt"
Die Wissenschaftler sprechen von einem "Gorbatschow-Effekt": Nach 1989 seinen die Wolken über Mitteleuropa, vom Weltraum aus gesehen, dunkler geworden, erklärt Hartmut Graßl. "Das bedeutet, sie streuen nicht mehr so viel Sonnenlicht wie früher in den Weltraum zurück, sondern lassen vermehrt Strahlung zum Erdboden durch."

Deshalb, so das Fazit der Forscher, werde es jetzt unter den Wolken wärmer. Diese Änderung der Rückstreufähigkeit der Wolken sei Folge der "umweltpolitischen Säuberungswelle", die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in der DDR, in Tschechien und Polen anlief:

In jener Region, vordem als "Schwarzes Dreieck" berüchtigt, wurden nach der Wende unzählige Industrieanlagen und Kraftwerke stillgelegt oder saniert, die bis dahin gewaltige Mengen an Schadstoffen in die untere Atmosphäre gepumpt hatten.
"Großversuch" zum indirekten Aerosol-Effekt
Dies erweist sich nun, nach mehr als einem Jahrzehnt, als eine Art Großversuch zu einem bislang nur theoretisch fassbaren, dabei aber hochaktuellen Problem der Klimaforschung - und zwar zum so genannten indirekten Aerosol-Effekt.
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Aerosole - feinst verteilte Schwebstoffe
Als Aerosole bezeichnet man feine Tröpfchen oder feste Teilchen mit Durchmessern zwischen einem hundertstel und einem zehntausendstel Millimeter, die in der Luft schweben und sich so einige Stunden, aber auch bis zu mehreren Wochen in der Atmosphäre halten und verteilen. Aerosole sind potentiell besonders gefährlich, da sie bis ins Innere der Lunge vordringen und sich in den Bronchiolen und Bronchien anlagern.
->   Mehr Informationen zu Aerosolen
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Der direkte und indirekte Einfluss
Die Schwebeteilchen beeinflussen den Strahlungshaushalt und damit das Klima in Bodennähe auf zweierlei Weise: zum einen direkt - indem sie Licht, aber auch Wärmestrahlung streuen oder absorbieren, zum anderen indirekt - indem sie auf die Bildung von Wolken, deren optische Eigenschaften und Lebensdauer einwirken.

Vor allem der zweite, also der indirekte Aerosol-Effekt, macht die winzigen Schwebeteilchen zu einem gewichtigen Faktor im Klimasystem - zugleich aber zu einem Unsicherheitsfaktor in Klimamodellen, da sich der Einfluss der Aerosole auf die Wolken bislang nur anhand theoretischer Berechnungen abschätzen lässt.
Zwei konkurrierende Mechanismen
Das liegt auch daran, dass am indirekten Aerosol-Effekt zwei konkurrierende Mechanismen beteiligt sind: Oberhalb einer gewissen Größe wirken Aerosole als "Kondensationskeime" für Wasserdampf - je mehr Aerosole sie enthält, um so mehr und um so kleinere Tröpfchen entstehen in einer Wolke, was wiederum ihr Rückstrahlvermögen erhöht: Die Wolke streut mehr Sonnenlicht zurück in den Weltraum, am Erdboden wird es kühler.

Andererseits wirken Aerosole - insbesondere solche, die aus dunklen Ruß- oder Aschepartikeln entstehen - auch als Strahlenfallen. Sie absorbieren Licht und heizen dadurch die Wolken auf. Das kann so weit gehen, dass rußgeschwängerte Wolken regelrecht weggekocht werden und sich auflösen.
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Natürliche und anthropogene Quellen
Dazu kommt noch, dass sich der Aerosol-Mix der unteren Atmosphäre aus zahlreichen Quellen speist: sowohl aus natürlichen, wie etwa aus der Salzgischt der Ozeane, aus Vegetationsbränden oder Vulkanen, als auch aus anthropogenen Emissionen von Industrie, Hausbrand oder Verkehr. Dementsprechend schwanken Art und Konzentration der Aerosole räumlich wie zeitlich innerhalb weiter Bereiche - und auch deshalb lässt sich der indirekte Aerosol-Effekt in Klimamodellen bislang nur global und pauschal veranschlagen.
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Effekt insgesamt kühlend
Wissenschaftler gehen derzeit davon aus, dass der Effekt der Aerosole insgesamt kühlend wirkt und den Strahlungsfluss in die untere Atmosphäre global um bis zu zwei Watt pro Quadratmeter mindert.

Damit würde er dem Treibhauseffekt - den man gegenwärtig mit einem um 2,5 bis 3 Watt pro Quadratmeter erhöhten Strahlungsfluss veranschlagt - entgegen wirken und ihn deutlich bremsen. Wirklich sicher sind sich die Forscher über das Ausmaß dieser Bremswirkung allerdings nicht.
Auswirkungen der Wende: Ein Vorher/Nachher-Vergleich
Die beiden Hamburger Forscher kamen nun auf den Gedanken, die Auswirkungen der Wende auf die Wolken über Mitteleuropa anhand eines Vorher/Nachher-Vergleichs zu untersuchen - um erstmals konkrete, auf Messungen basierende Zahlen über den Einfluss des indirekten Aerosol-Effekts zu gewinnen.

Denn mit dem Wegfall der massiven Industrie-Emissionen aus dem "Schwarzen Dreieck" müsste sich dieser deutlich messen lassen: Die Emissionen sanken nach der Wende binnen weniger Jahre drastisch ab - sie fiel zwischen 1988 und 1998, bezogen auf Gesamteuropa, fast auf die Hälfte.
Zwei Satelliten-Langzeit-Messreihen als Basis
Um die Auswirkungen festzustellen, zogen die Hamburger Klimaforscher Messdaten mehrerer amerikanischer Satelliten heran, die mittels empfindlicher Spektrometer das Reflexionsvermögen der Wolken auch über Mitteleuropa über Jahre hinweg erfasst hatten.

Diese Daten lieferten zwei Langzeit-Messreihen, von denen die eine den Zeitraum von 1985 bis 1989, die andere die Jahre 1996 bis 1999 überdeckte. Und diese beiden Messreihen wurden dann - jeweils gesondert für winterliche und sommerliche Perioden - hinsichtlich der Rückstrahlkraft der Wolken verglichen.
Weniger Rückstrahlung im Winter, mehr im Sommer
Demnach zeichneten sich Emissionszentren wie städtische Ballungsräume oder Industrieregionen während der Wintermonate generell durch ein deutlich vermindertes Rückstrahlvermögen aus - eine Folge der vermehrten Ruß- und Aschepartikel, die das einfallende Licht in Wolken absorbieren.

Im Sommer hingegen traten Emissionszentren durch verstärkte Rückstrahlung hervor, bedingt durch den dann überwiegenden "Tröpfcheneffekt", das heißt durch die Bildung von immer mehr und immer kleineren Wassertröpfchen innerhalb der Wolken.
Ein Beleg für den "Gorbatschow-Effekt"
Diese und andere Detailbefunde belegten zunächst grundsätzlich, dass in den Wolken über Mitteleuropa der indirekte Aerosol-Effekt tatsächlich wirksam ist. Außerdem aber offenbarte sich im Vorher-/Nachher-Vergleich der beiden Messreihen, was Graßl und Krüger vermutet hatten - der "Gorbatschow-Effekt": Der Treibhauseffekt macht sich stärker bemerkbar.
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Die Folge: Treibhauseffekt schlägt stärker durch
Im Mittel ist laut Studie das Rückstrahlvermögen der Wolken über Mitteleuropa in den Jahren nach 1989 um 2,8 Prozent gesunken, dementsprechend hat sich der Strahlungsfluss auf diese Region um etwa 1,5 Watt pro Quadratmeter verstärkt. Das heißt, dass der ehedem durch die Aerosole aus den Industrie-Emissionen des "Schwarzen Dreiecks" gebremste, anthropogene Treibhauseffekt jetzt stärker auf Mitteleuropa durchschlägt.
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"Alle Ursachen der Klimaänderungen anpacken"
Für Graßl bedeutete dieser Befund keine Überraschung. Denn als Spezialist für Aerosole hat er schon vor gut zwei Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Maßnahmen zur Luftreinhaltung derart "perverse" Folge haben können.

Damit war er damals auf erhebliche Vorbehalte und auch Kritik gestoßen. Nun, da er sich bestätigt sieht, meint er: "Nur wer alle Ursachen der Klimaänderungen gemeinsam anpackt, nämlich Emissionsminderungen durchsetzt, beim langlebigen Kohlendioxid und den kurzlebigen Gasen wie Schwefeldioxid sowie beim Ruß, dämpft den Klimawandel ohne erneute Schräglage."
->   Max-Planck-Institut für Meteorologie
->   Meteorologisches Institut der Universität Hamburg
Mehr zum Thema Aerosole in science.ORF.at:
->   Wetterkapriolen: Die unterschätzte Rolle von Ruß
->   Die weltweite Reise der Luftverschmutzer
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Science-Event zum "Klimawandel" in Österreich
Mit den globalen Klimaschwankungen und den österreichischen Vorbereitungen auf den Klimawandel beschäftigt sich am 7.11. ein "Science Event" im RadioKultuhaus, bei dem auch "AustroClim", eine neue österreichische Forschungsinitiative präsentiert wird.
->   Mehr dazu in der Event-Rubrik von science.ORF.at
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01.01.2010