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Die neue Politik der Bioethik  
  Am vergangenen Wochenende fand in Wien ein internationaler Workshop zum Thema "Biomedicalisation, Social Conflicts, and the New Politics of Bioethics" statt. Ziel des Workshops war es, neue Tendenzen in der gegenwärtigen Biopolitik herauszuarbeiten, so der Organisator Herbert Gottweis vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at fasst der Politikwissenschaftler diese Tendenzen zusammen. Die Bioethik, so ein Fazit, wird mehr und mehr zum Politikum.  
Zur Politik der Bioethik
Ein Gastbeitrag von Herbert Gottweis

Der Aufstieg der Bioethik zu einer neuen Orientierungswissenschaft ist heute unübersehbar. Viele Ländern richteten Bioethik-Kommissionen, Gremien und Komitees zur Beratung der Politik ein. Ethiker und Moralphilosophen avancierten zu beliebten Kommentatoren des bio-medizinischen Zeitgeschehens.

Wie lässt sich dieser kometenhafte Aufstieg der Bioethik als wissenschaftliche Disziplin und gesellschaftlich-politische Interpretationshilfe für die neuesten Trends in den Life Sciences erklären? Und wo liegen ihre Grenzen?
Bioethik als Biopolitik
Die neue Bedeutung der Bioethik in der gesellschaftspolitischen Debatte steht in engem Zusammenhang mit einer Kette von Transformationen in der modernen Biopolitik. Vom 18. Jahrhundert an bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhundert war vor allem der Staat der herausragende Akteur in der Biopolitik.

Die Herstellung und Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung stand im Zentrum umfangreicher staatlicher Anstrengungen, vom Aufbau einer "medizinischen Polizey" im Hygienewesen bis hin zur Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspolitik.
Biopolitik heute: Ein gewandeltes Bild
Dieses Bild hat sich heute grundlegend gewandelt. Vor dem Hintergrund der Debatte über "explodierende Gesundheitskosten" begann sich der Staat weltweit aus der Gesundheitspolitik zurückzuziehen. Eigenverantwortung, private Krankenversicherung, Kostenrechnung, und "mehr Markt" sind heute die neuen Stichworte in der gesundheitspolitischen Debatte.
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Es zählt: Der individuelle "Wille zur Gesundheit"
In den USA sind die privaten Managed Health Care Organisationen zu den zentralen Akteuren im Gesundheitswesen geworden. Aber auch in Europa geht es in der medizinischen Versorgung nicht mehr allein um die Herstellung von Gesundheit, sondern auch um das systematische Abwägen von Mitteleinsatz, Kosten und erwartbaren therapeutischen Effekten.

Was der Staat für die Gesundheit der Bevölkerung tun kann ist in den Hintergrund gerückt. Immer mehr wird davon gesprochen, dass jeder einzelne für sich selbst und seine Gesundheit Verantwortung zu übernehmen hat. Was zählt, ist der individuelle "Wille zur Gesundheit".
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Ähnliche Tendenzen im Bereich Biomedizin
Ganz ähnliche Tendenzen beobachten wir in der politischen Regulierung des biomedizinischen Fortschritts. Auch hier hat sich der Staat zurückgezogen. Zwar bietet er in einer Reihe von Ländern noch eine Art von Rahmengesetzgebung, in den großen Fragen jedoch, in der Embryonenforschung, der Stammzellentherapie, dem genetischen Testen und der Xenotransplantation beobachten wir immer stärker eine Delegierung der Verantwortung:

Von der Ebene der Gesetze (und damit der parlamentarischen Entscheidung) auf die Ebene der Bioetik-Gremien, Bürgerforen, lokalen Ethik-Kommittees und Mechanismen der Selbstregulierung. Die Einrichtung von Orten, an denen Sprechen über Grenzfragen der Biomedizin möglich wird, ist heute zu einer zentralen Technik der biopolitischen Entscheidungsfindung geworden.
Bioethik als Medienpolitik
Der Aufstieg der Bioethik als Orientierungswissenschaft geht aber mit dem Verlust ihrer "Unschuld" einher. War in der Vergangenheit die Bioethik ein Projekt mit dem Ziel, durch möglichst neutrale und nüchterne Reflexion Konsens in Grundfragen der Medizin zu erzeugen, so regiert heute vielerorts in der Debatte die "Politik des Soundbites".

Wie Daniel Callahan anlässlich des am Wochenende in Wien stattfindenden Workshops über "Politik der Bioethik" ausführte, zählt heute in der bioethischen Debatte nicht so sehr die ausgewogen-abwägende Überlegung, sondern der mediengerechte Happen, möglichst ohne "einerseits-anderseits" und mit klarer abschließender Wertung.
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Bioethiker: Instrumentalisiert durch Medien und Politik
Häufig instrumentalisiert durch Medien und Politik, sind im biomedizinischen Bereich, die "Bioethiker" zu den "neuen Experten" geworden. Sie haben weniger durch ihre naturwissenschaftliche Expertise zu glänzen, als durch Meinung, Interpretation und Gedanken - möglichst in der Gestalt eines "Soundbites".
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Die Bioethik wird zum Politikum
So helfen die Bioethiker zwar durch ihre Reflexionen dem gesellschaftlichen Nachdenken, können aber weder die Gesetze der Mediengesellschaft außer Kraft setzen, noch sich der Dynamik politischer Konflikte entziehen. Die Bioethik wird zum Politikum. Der Versuch der Herstellung eines moralischen Konsensus in der Gesellschaft durch die Bioethik rückte damit in die Ferne.
Die Grenzen der Bioethik
Fraglos ist heute der medizinische Alltag weniger durch Gentherapie und Xenotransplantation als durch Herzinfarkte oder dysfunktionale Hüftgelenke geprägt. In diesem medizinische Alltag wird aber das betriebswirtschaftliches Abwägen und Kalkulieren immer wichtiger, das mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht durch revolutionäre Durchbrüche in der experimentellen Medizin an Bedeutung verliert.

Selbst wenn eines Tages die auf Stammzellentechnologie basierende Heilung von Alzheimer in den Horizont des Möglichen rückt, werden weder die privaten Versicherungen noch die öffentlichen Krankenkassen ihre in den letzten Jahrzehnten entwickelten Systeme der Kostenkontrolle vergessen oder ihre Finanzierungsprobleme bis dahin auf wundersame Weise gelöst haben.
Schnittstelle im Gesundheitssystem
Dieser Schnittstelle zwischen dem mikro- und makroökonomischen Management des Gesundheitssystems und den Fortschritten der modernen Biomedizin wird vermutliche der Kern der biopolitische Konfliktzone der Zukunft sein.

Natürlich ist es nachvollziebar, wenn heute in der biopolitischen Diskussion so manche Bioethiker und Theologen Fragen wie etwa des "Ja" oder "Neins" zur Stammzellenforschung als die zentralen suggerieren. Doch muss man auch darüber nachdenken, was nach dieser Art von grundsätzlichen Debatte passieren wird.
Die Frage nach Zugang & Einsatz neuer Errungenschaften
Einmal davon ausgehend, dass westliche Gesellschaften große Bereiche der heute in der Biomedizin entwickelten neuen Techniken und Verfahren letztlich begrüßen werden, könnte sich bald die Frage nach dem Zugang und Einsatz zu diesen neuen medizinischen Errungenschaften stellen.

Wer wird in Zukunft welche genetischen Testverfahren in seinem Gesundheitsscheck inkludiert haben, und wer nicht? Wo werden die entstehenden Daten gesammelt werden? Welche Alzheimer- oder Krebs- Patienten haben ein Anrecht auf die neuen und mit Sicherheit extrem kostspieligen Therapien?

In diesen Fragen vermischen sich in beunruhigender Weise die politische Ökonomie des Gesundheitswesens und Gesellschaftspolitik mit ethisch-moralischen Erwägungen.
Neue biopolitische Ordnung und die Gesellschaft
Solche Problemstellungen werden in Zukunft im Dickicht multipler Akteursnetzwerke, also in Verhandlungen und Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Instanzen, Versicherungsunternehmen, Patientenaktivisten, Bioethik-Kommissionen und Biotechnologie-Unternehmen entschieden werden.

Deren Themen sind nicht so sehr die "Gesundheit der Bevölkerung" oder die theoretische Lösung grundsätzlicher Moralprobleme, sondern Gesundheitsvorsorge, die Konturen menschliche Identität, Risikogruppen, Profite, Kostenmanagement und die Herstellung von ethischem Konsens.

Der Ausgang dieser Konflikte und die Gestalt der neuen biopolitischen Ordnung werden einen wesentlichen Einfluss auf die Zukunft unserer Gesellschaft nehmen.
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Informationen zum Autor
Herbert Gottweis, der Autor dieses Gastbeitrages, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien (seit 1998) und Stellvertretender Vorstand des Instituts für Politikwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte: Policy Forschung, Vergleichende Politikwissenschaft, Politik der EU und im transnationalen Raum, Politisches System Österreich.
->   Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien
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->   Institut für Politikwissenschaft: ¿Vergleichende Policy-Forschung¿
 
 
 
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01.01.2010