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Online-Wahlbörsen: Experimentelle Märkte für Prognosen  
  In Vorwahlzeiten duellieren sich Wahl- und Meinungsforscher um eine möglichst genaue Vorhersage des Wahlergebnisses. An der Universität Innsbruck haben nun Wirtschafts- und Politikwissenschaftler gemeinsam ein Projekt verwirklicht, das den Wahlausgang mit Hilfe einer Börse prognostizieren soll. Repräsentative Umfragen sind dabei nicht entscheidend. Vielmehr kommt es auf den "Handel" mit politischen Optionen auf dem Markt der Meinungen an. Der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Huber stellt die neue Online-Wahlbörse in einem Gastbeitrag für science.ORF.at vor.  
Wahlbörse im Internet
Ein Gastbeitrag von Jürgen Huber

Das Institut für betriebliche Finanzwirtschaft, das Institut für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) und das Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck gehen neue Wege und gestalten für die österreichischen Nationalratswahl 2002 eine Wahlbörse im Internet.

Das Innsbrucker Forschungsteam versucht in Kooperation mit der Firma bdf-net erstmals, im Rahmen von Wahlbörsen eine wissenschaftliche Betreuung, ein ausgefeiltes Software-Paket und eine analytische Berichterstattung zu verknüpfen.
Überraschend exakte Prognosen
Als anlässlich der US-Präsidentschaftswahlen 1988 die erste Wahlbörse zu einer sensationell exakten Wahlprognose führte - Prognose- und Wahlergebnis differierten um lediglich 0,2 Prozent, das war 10-mal besser als die beste traditionelle Meinungsumfrage - glaubte man ein Wundermittel gefunden zu haben.

Als bei der nächsten Wahl 1992 die Abweichung gar nur 0,06 Prozent betrug, war der Durchbruch als Instrument der Wahlforschung gelungen. Die Anfangseuphorie wurde inzwischen etwas relativiert, denn nicht immer gelang eine exakte Prognose, doch betrug die Abweichung in Österreich, wo seit 1994 Wahlbörsen durchgeführt werden, die Abweichung der Prognose vom Ergebnis nur zwischen 0,9 und 3,1 Prozent.
Nobelpreisträger standen "Pate"
Wahlbörsen basieren auf den Arbeiten zweier Nobelpreisträger der Ökonomie: Friedrich August von Hayek und Vernon Smith, der den Nobelpreis letzte Woche zugesprochen bekam.
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Informationsverarbeitung durch Märkte
Hayek erläuterte bereits 1945 theoretisch, wie und warum Märkte fähig sind, Informationen, die über tausende Marktteilnehmer verstreut sind, zu aggregieren und dabei ein effizientes Ergebnis zu erzielen. Vernon Smith entwickelte das Instrumentarium der computerunterstützten Laborexperimente für die Ökonomie, wobei er der Untersuchung des Einflusses der Marktform auf Effizienz und Händlerverhalten besondere Aufmerksamkeit widmete.
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Experimenteller Einsatz
Bei einer Wahlbörse werden die Ideen der beiden Ökonomen vereint und praktisch angewandt. Die Akteure am Markt handeln Papiere, welche die Stimmenanteile der einzelnen Parteien repräsentieren.

Obwohl keiner der Teilnehmer das Wahlergebnis im Voraus kennt (oder kennen kann), sollte sich laut Hayek eine exakte Prognose ergeben. Die dabei verwendete Marktform - eine beidseitige Auktion mit limitierten und unlimitierten Geboten - wurde von Vernon Smith erstmals in Experimenten eingesetzt.
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Buchtipp
Eine ausführliche Darstellung des Themas "Wahlbörsen" findet sich im soeben erschienenen Buch von Jürgen Huber "Wahlbörsen: Preisbildung auf politischen Märkten zur Vorhersage von Wahlergebnissen", Verlag Dr. Kovac, ISBN: 3-8300-0744-2, 260 Seiten. Wahlbörsen werden in dieser Darstellung interdisziplinär sowohl aus der Perspektive des Politikwissenschaftlers, als auch aus der Perspektive des Wirtschaftswissenschaftlers betrachtet.
->   Mehr über das Buch
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Mehr als die "Sonntagsfrage"
Das von der Universität Innsbruck realisierte Projekt reicht über die in Wahlbörsen übliche Sonntagsfrage, welche Partei wie viele Stimmen erhält, hinaus. Zentrale Fragestellungen der Forschung sind u.a.: Beeinflussen markante Ereignisse im Wahlkampf - etwa die Fernsehdiskussionen der Spitzenkandidaten - die Kursentwicklung? Was führt zu politischen Stimmungsschwankungen und psychologisch bedingten Kursveränderungen? Können Wahlbörsen als Element einer virtuellen Demokratie das politische Interesse fördern?
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Internet als Medium der Wahlforschung
Auch ist es spannend, das Internet als neues Medium in die Wahlforschung einzubinden. Aus Sicht der politischen Bildung zeigen Personengruppen, die sich ansonsten weniger intensiv mit Politik und Wahlen auseinandersetzen würden, besonderes Engagement. Das gilt, zum Beispiel, für Wirtschafts- und Computerberufe. Für die Finanzwirtschaft könnten Wahlbörsen bestätigen, dass Märkte mit verstreuten und unsicheren Informationen zu einem fast perfekten Ergebnis gelangen.
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Repräsentativität ist nicht entscheidend
Faszinierend ist, dass Wahlbörsen - anders als Umfragen - ohne Repräsentativität auskommen. Für die Prognosegenauigkeit ist es unerheblich, welches Geschlecht, Alter oder Einkommen die Händler aufweisen, denn diese handeln nicht nach ihren politischen Präferenzen, sondern müssen sich fragen, was alle anderen am 24. November wählen werden.

Ein FPÖ-Anhänger, der die Grünen für unterbewertet hält, wird aus Gewinninteresse deren Aktien kaufen, und umgekehrt. Befragungen bzw. die Beobachtung des Händlerverhaltens haben gezeigt, dass dies auch tatsächlich passiert.
Der Mechanismus der Wahlbörse
Der Mechanismus einer Wahlbörse ist sehr einfach: Hält ein Händler eine Aktie für unterbewertet, so kauft er sie; hält er sie für überbewertet, so verkauft er. Liegt die ÖVP beispielsweise bei "36", so bedeutet das, dass am Markt ein Wahlergebnis von 36 Prozent erwartet wird.

Vermutet ein Händler ein höheres Wahlergebnis, so kauft er die Aktie und kann bei steigenden Kursen bzw. einem höheren Wahlergebnis Gewinn machen. Liegt die ÖVP am Wahltag unter 36 Prozent, so macht der Händler Verlust.
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Die Summe der Gebote bestimmt den Preis
Durch ihre Gebote "äußern" die Akteure ihre Meinung - und bringen damit auch ihre Informationen auf den Markt. Alleine die Summe der Gebote bestimmt den Preis und damit die Prognose des Marktes, ein Eingriff des Veranstalters findet nicht statt. Natürlich ist jede Wahlbörse auch ein Experiment.
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"Ein faszinierendes Instrument" für politische Information
Es ist Unsinn, die Sehnsucht nach der Kristallkugel zu verspüren, denn die Prognosegenauigkeit der ersten beiden Märkte wurde später kaum jemals erreicht. Von einem nicht seriösen Handel bis zu Manipulationsversuchen aus politischen oder wirtschaftlichen Motiven kann viel passieren.

Dennoch - oder gerade deshalb - stellen Wahlbörsen für Forscher ein faszinierendes, interdisziplinär verwendbares Instrument, für Händler eine spannende und unterhaltsame Möglichkeit der politischen Information dar.
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Gastbeitrag
DDr. Jürgen Huber promovierte sowohl in Wirtschafts- als auch in Politikwissenschaften zum Thema Wahlbörsen an der Universität Innsbruck, er ist heute als Assistent am Institut für Betriebliche Finanzwirtschaft tätig.
->   Universität Innsbruck
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Wahlbörsen - aktuell
Zur österreichischen Nationalratswahl am 24. November werden derzeit drei Wahlbörsen veranstaltet, wobei jene der Presse von dem oben präsentierten interdisziplinären Forscherteam wissenschaftlich betreut und begleitet wird
->   Die Presse/Wahlbörse
->   Kurier/Profil
->   Wirtschaftsblatt
Weitere Informationen zum Thema finden sich auf der Homepage der TU-Wien:
->   TU Wien - Industrielle Betriebswirtschaftslehre
 
 
 
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01.01.2010