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Gendiagnostik: Unterschiedliche Risiko-Wahrnehmung  
  Genetische Diagnostik ist heute bereits in vielen Anwendungen Bestandteil der modernen Medizin. Sie verspricht bessere Abschätzung von Krankheitsrisiken und neue Heilungschancen. Kritiker befürchten dagegen einen Missbrauch sensibler Daten. Daneben geht es aber auch um persönliche Entscheidungsfreiheit und die Kosten maßgeschneiderter Behandlungsmethoden. Eine breite öffentliche Diskussion über dieses brisante Thema versucht der "Diskurstag Gendiagnostik" in Gang zu bringen. Brigitte Ratzer von der TU-Wien verweist in ihrem Gastbeitrag auf unterschiedliche Risikowahrnehmungen: Die Verantwortung kann den Menschen von der neuen Technik aber in keinem Fall abgenommen werden.  
Gendiagnostik - Chance oder Risiko?
Von Brigitte Ratzer

In der Auseinandersetzung um neue Techniken wie die Gendiagnostik ist es unerlässlich, das Gleichgewicht im Diskurs zu wahren und ihre praktische Durchführung wachsam zu begleiten. Bei der Gendiagnostik spielt der Umgang mit dem Begriff Wahrscheinlichkeit, dem Risiko zu erkranken, eine entscheidende Rolle.
Geschichten vom Risiko
Unser gegenwärtiger Bezug auf Risiken hat die drei Eigentümlichkeiten, dass die Uneinigkeit über das Problem in der westlichen Welt tief und verbreitet ist, dass unterschiedliche Leute sich über unterschiedliche Risiken Sorgen machen - Krieg, Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Inflation - und dass Wissen und Handeln zeitlich nicht zusammenfallen.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass grundsätzliche Uneinigkeit darüber besteht, was riskant ist, wie riskant es ist und was dagegen zu tun sei.
Unterschiedliche Risikowahrnehmung
Es gibt eine grundlegend unterschiedliche Risikowahrnehmung von Lai/inn/en und Expert/inn/en. Ursache dafür ist eine unterschiedliche Wahrnehmung aufgrund unterschiedlicher sozialer Prägungen.

Welche Dinge in unserer Umgebung wir als riskant einstufen, hängt von unseren unmittelbaren Lebensbedingungen, unseren sozialen Umgangsformen, der Art und Weise, wie wir arbeiten, kommunizieren, mobil sind usw. ab.
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"Objektive" Risiken und "subjektive" Wahrnehmungen
Wenn wir verstehen wollten, welchen Risiken wir gegenüberstehen, bräuchten wir nichts weniger als vollständiges Wissen - eine verrückte Antwort auf eine unmögliche Frage. Da es keine einzig-richtige Wahrnehmung von Risiken geben kann, gibt es keinen Weg, jemanden zu veranlassen, "es" zu akzeptieren. Somit ist es auch unangemessen, wenn in öffentlichen Kontroversen das Problem in objektiv kalkulierte natürliche Umweltrisiken und subjektiv voreingenommene individuelle Wahrnehmungen zerteilt wird.
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Kein Gleichgewicht der Betrachtungsweisen
Vernunft und Gefühl, Wissen und Intuition, Skepsis und Glaube vermischen sich im Kopf eines jeden einzelnen zu einem Kolloid von Haltungen oder Heuristiken, die verschiedenartige Funktionen erfüllen und - letztlich - miteinander friedlich koexistieren.

Zu einem solchen Gleichgewichtszustand will es indes derzeit in der Gesellschaft leider nicht kommen, und hier liegt etwas im argen. Die ungerechtfertigte Bevorzugung "rationaler" Argumentationen vor "emotionalen" Äußerungen ist nur ein Teilaspekt dieses Problems.
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Diskurstag "Gendiagnostik - Was geht mich das an"
Im Rahmen des österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU findet am 24. 10. im Kinosaal des Naturhistorischen Museums Wien (Beginn:9.00 Uhr) der "Diskurstag Gendiagnostik" statt. Veranstalter sind das bm:bwk und die Plattform Gentechnik&Wir. In drei Diskussionsrunden werden die Themen Beratung, Datenschutz" und gesundheitspolitische Aspekte behandelt.

Ö1 und science.ORF.at sind Medienpartner dieser Veranstaltung. science.ORF.at bringt dazu Gastbeiträge von WissenschaftlerInnen, die bereits im Vorfeld Stellungnahmen zur Thematik abgegeben haben.
->   GEN-AU: Diskurstag Gendiagnostik
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Neue Fragen wären zu stellen
In unserem Umgang mit neuen Technologien haben wir uns angewöhnt, insbesondere bei sogenannten Risikotechnologien wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Was wird diese Technik bringen? Was kann sie? Wie wird sie wirken? Die Frage der vermeintlich automatisch auftretenden Folgen beschäftigt uns unaufhörlich.

Ich meine, es ist hoch an der Zeit, ganz andere Fragen zu stellen. Wie ist unser Umgang mit solchen Technologien? Wie bauen wir sie in unser tägliches Leben ein? Wie muss unsere Praxis aussehen, damit wir trotz, oder auch gerade mit diesen Techniken Menschen bleiben nach den Maßstäben, die wir uns selber geben?
Die Entscheidung liegt bei uns
Nicht eine - überdies von uns selbst geschaffene - Technik kann dazu führen, dass wir weniger human, weniger fürsorglich, weniger verantwortlich, weniger solidarisch sind, sondern immer nur wir selbst, immer nur unsere Praxis im Umgang mit einer solchen Technik.
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Das Mensch-Sein ist nicht an die Technik zu delegieren
Die Entscheidung darüber, ob und welche genetischen Merkmale in Zukunft Anlass für Diskriminierung, Ausgrenzung oder Schlimmeres sein werden, liegt bei uns. Das Mensch-Sein, das auch beinhaltet, frei und verantwortlich zu sein für unser Handeln - das nimmt uns die Technik in keinem Fall ab.
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Aus den Erfahrungen lernen
Zu fordern ist allerdings, dass wir aus den Erfahrungen mit anderen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und den Fehlern im politischen Umgang mit neuen Technologien lernen. Zentral dabei sind zwei Punkte:
Gleichgewicht im Diskurs
Es ist sicherzustellen, dass im Diskurs über Gendiagnostik und ihre Chancen und Risiken auch jene Stimmen Gewicht haben, die abseits einer naturwissenschaftlich-technischen Logik argumentieren oder auch fundamentale Ablehnung äußern. Internationale Beispiele zur Partizipation können hier als Vorbilder dienen.
Begleitende Maßnahmen
Mit der gesetzlichen Zulassung und darauffolgenden Implementierung technologischer Möglichkeiten müssen untrennbar auch begleitende Maßnahmen, insbesondere ein Monitoring der tatsächlichen Praxis, verbunden sein. (Was bedeutet es beispielsweise, wenn die 4 ausgewählten Projekte zur österreichischen Genomforschung alle von Männern eingereicht wurden?) Die Kosten dafür müssen als integraler Bestandteil der Entwicklungskosten kalkuliert werden.
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Gastbeitrag
DI Brigitte Ratzer, Jahrgang 1966, Studium der technischen Chemie, seit 1995 externe Lektorin an der TU-Wien und TU-Graz, seit Sept. 2000 Univ. Ass. am Institut für Technik und Gesellschaft.
Forschungsschwerpunkte: Biomedizinische Technikfolgenabschätzung und Bioethik, feministische Naturwissenschaftforschung, Technik und Gesellschaft.
->   Brigitte Ratzer: Frauen in der Technik
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->   GEN-AU: Genomforschung in Österreich
->   Plattform Gentechnik&Wir
->   Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur
 
 
 
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01.01.2010