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Gendiagnostik und neues Menschenbild  
  Gendiagnostik verspricht in vielen medizinischen Anwendungsbereichen Früherkennung von Krankheiten und damit bessere Behandlungschancen. Nicht nur der Schutz der so gewonnenen Daten wirft aber noch viele Fragen auf. Auch ein Menschenbild, das von zunehmender Perfektion und "Gesundheitsmaximierung" bestimmt sein könnte, ist eine breite öffentliche Diskussion wert, wie sie im "Diskurstag Gendiagnostik" versucht wird. Die Soziologin Lisbeth N. Trallori hat dazu einen Gastbeitrag für science.ORF.at verfasst.  
Biotechnologien als Motor der gesellschaftlichen Transformation
Von Lisbeth N. Trallori

Gendiagnostik ist ein Beispiel dafür, dass Biotechnologien unser Leben verändern - aber das Wie und das Was können nur extrapoliert werden, ohne hundertprozentige Prognosen herauszuholen.

Es geht dabei vor allem um Rahmenbedingungen unserer Existenz; insbesondere kommen drei Figurationen ins Spiel, nämlich Rationalisierung, Eugenisierung und Ökonomisierung - Figurationen, die sowohl unsere individuelle wie auch gesellschaftliche Verfasstheit tangieren.

Heutzutage gehört zu einer durchrationalisierten Lebensweise, dass Menschen weder Krankheit oder Behinderungen noch Pflegebedürftigkeit im Alter aufweisen. Was zählt, ist der Furor des Perfekten - auch wenn es bislang nur Diagnostikmethoden und so gut wie keine Gentherapie gibt.
Damoklesschwert der Perfektion
Hinzukommt, dass so getan wird, als ob die Inanspruchnahme dieser Technologien "bloße" Privatsache sei und ohnehin "nur" zur Gesundheitsmaximierung eingesetzt werde; das heißt, der politische Charakter wird "heruntergespielt". Damit wird eine systematische Entpolitisierung betrieben in jenen Fragen, die uns tatsächlich alle betreffen. Denn das Damoklesschwert der Perfektion und der Verbesserung schwebt über allen und allem.
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Kalkulierbarkeit und Machbarkeit
Basierend auf dem Pathos permanenter Optimierung wird es künftig immer schwieriger, dass jene Menschen (Pflanzen, Tiere), die nicht den genetischen oder biomedizinisch definierten Erwartungen und Normierungen entsprechen, überhaupt Akzeptanz finden. Das heißt, dass sich das Werteniveau noch mehr in Richtung Kalkulierbarkeit und Machbarkeit, somit zur individueller Schuldzuschreibung verschieben wird. Ein krankes oder behindertes Leben sei vermeidbar, so lautet der Tenor.
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Run auf Gendaten
Daraus werden eine Reihe von soziopsychologischen und -ökonomischen Belastungen evident. Interessenskollisionen bezüglich der Gen-Daten und der Prognosen über künftige Krankheits-Dispositionen sind damit vorgegeben, denn dort, wo das Individuum bislang seinen Schutz als Privatperson erfuhr, wird es quasi rigoros gentechnisch "entkleidet".

Der Run auf diese Daten hat ja bereits begonnen, wie es das isländische Beispiel zeigt, wo die Bioinformationen der Bevölkerung einer regelrechten Vernutzung unterzogen werden. Zum einen bekunden öffentliche / halböffentliche Institutionen sowie private Unternehmen, Betriebe und Konzerne ihre Interessen daran; vor allem aber dürften solche Bioinformationen das gesamte Versicherungswesen verändern.
Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen
Wer/Welche, ob überhaupt und in welchem Ausmaß Menschen versichert werden können, darüber werden künftig erst massive gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen entscheiden.

Auf der anderen Seite werden die Experten - die Biokratie - mit einer neuen, bislang völlig unbekannten Machtfülle, so der Definition dessen, was "Glück" oder ein "lebenswerten Leben" zu sein hat, ausgestattet sein. Auf diesem Terrain könnte eine genetische Zwei- oder Dreiklassengesellschaft die Konturen ihrer Schatten bereits vorauswerfen.
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Gastbeitrag und "Diskurstag Gendiagnostik"
Lisbeth N. Trallori hat derzeit eine Gastprofessur an der Universität Graz inne. Ausgezeichnet u.a. mit dem Käthe Leichter-Preis für wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Frauenforschung (1999).

Am 24. 10. findet im Rahmen des Österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU der Diskurstag "Gendiagnostik - was geht mich das an?" statt.
Ort: Kinosaal des Naturhistorischen Museums Wien;
Beginn: 9.00 Uhr; Veranstalter: bm:bwk und Plattform Gentechnik&Wir.

science.ORF.at ist Medienpartner dieser Veranstaltung und bringt dazu Diskussionsbeiträge, die bereits im Vorfeld zu der Thematik Stellung nehmen.
->   GEN-AU/ Diskurstag
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->   Brigitte Ratzer: Gendiagnostik: Chance oder Risiko?
->   bm:bwk
->   Plattform Gentechnik&Wir
 
 
 
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01.01.2010