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Gendiagnose: Angehörige in die Beratung einbeziehen  
  Die Gendiagnose konfrontiert die Menschen mit Fakten über ihre Gesundheit, die sie nicht beeinflussen können. Was vererbt wurde, lässt sich vom Individuum nicht kontrollieren. Schuldzuweisungen innerhalb der Familie können die Folge sein. Umso wichtiger wird es, diese Fragen zu kommunizieren und auch die Angehörigen bei der Beratung einzubeziehen, meint die Verhaltenstherapeutin und Gesundheitspsychologin Marianne Ringler in ihrem Gastbeitrag für science.ORF.at anlässlich des "Diskurtsages Gendiagnostik".  
Gendiagnostik: Intrapsychische Bedeutung und Psychodynamik genetisch-diagnostischer Untersuchungen
Von Marianne Ringler

Genetisch diagnostische Untersuchungen setzen sowohl im Vorfeld wie auch im Falle ihrer Durchführung und danach vielfältige intrapsychische Prozesse in Gang. Diese können immer nur aus der besonderen individuellen Lebensgeschichte verstanden werden. Prognosen über die Verarbeitung können daher nur in diesem Rahmen erstellt werden.

In jedem Fall darf nicht davon ausgegangen werden, dass selbst "negative" Ergebnisse bedeutungslos sind. In jeder Beratung haben eine Reihe von Themenbereichen mitgedacht zu werden.
Ohnmachtsgefühle der eigenen Gen-Ausstattung gegenüber
Genetische Diagnostik spricht einen Bereich der Persönlichkeit an, über den kein Mensch Kontrolle hat. Denn Ererbtes ist nicht modifizierbar und durch keine wie immer gearteten Bewältigungsstrategien beeinflussbar. Dies erleben viele Menschen als unerträglich.

Das Ausgeliefertsein an die genetische Ausstattung ist auch ohne genetisch-diagnostische Möglichkeiten ein äußerst heikles Thema. Es mobilisiert alles Wissen und alle Phantasien, die sich auf persönliche und familiäre "Unvollkommenheiten" beziehen. Insbesondere werden alle Ahnungen, die "Familiengeheimnisse" betreffen, aktiviert. Dadurch gewinnen Fragen nach der "Schuld" und damit verbundene Schuldzuschreibungen besondere Relevanz.
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"Diskurstag Gendiagnostik"
Am 24. 10. findet im Rahmen des Österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU der Diskurstag "Gendiagnostik - was geht mich das an?" statt.
Ort: Kinosaal des Naturhistorischen Museums Wien;
Beginn: 9.00 Uhr; Veranstalter: bm:bwk und Plattform Gentechnik&Wir. science.ORF.at ist Medienpartner dieser Veranstaltung und bringt dazu Diskussionsbeiträge, die bereits im Vorfeld zu der Thematik Stellung nehmen.
->   GEN-AU/Diskurstag
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Mit Nahestehenden offen kommunizieren?
Aggressive Regungen werden besonders bedeutsam. Auf die Probe gestellt wird insbesondere die Fähigkeit, gute und schlechte Eigenschaften sowohl sich selbst als auch relevanten Anderen gegenüber mental gleichzeitig verfügbar zu haben.

Zentrale Fragen sind daher, ob über anstehende Entscheidungen in einer Weise nachgedacht und gesprochen werden darf, die ein konstruktives Miteinander erlauben, oder ob die Angst vorherrscht, wertvolle Beziehungspartner zu verletzen. Letzteres beeinträchtigt die offene Kommunikation erheblich.
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Gendiagnostik - Wer ist betroffen?
Genetisch - diagnostische Maßnahmen wirken nicht allein auf die Person, die die Beratung sucht, sondern gleichermaßen auf alle Angehörigen, die von den Absichten und Ergebnissen der Untersuchung mitbetroffen sind. Also auch angeheiratete Ehepartner und deren Familien, die nun mit der Angst konfrontiert werden, einer Person in ihrem familiären Umfeld verpflichtet zu sein, die möglicherweise oder tatsächlich einen "Erbschaden" einbringt.
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Gesamtes Wertesystem betroffen
Hier wird das gesamte Wertesystem betroffen. Fragen nach lebenswert oder lebensunwert, gut oder böse, falsch oder richtig, gesund oder ungesund, usf. tauchen unmittelbar auf. Auch alle diesbezüglichen Erfahrungen einer Familie, ihre politische Einstellung hierzu gewinnen deutlich spürbare Macht.

Zur Verletzbarkeit des Betroffenen kommt hinzu, dass Verwandte vom Verlust oder einem drohenden Verlust, einer Erkrankung oder einer möglicherweise oder tatsächlich später eintretenden Erkrankung mitbetroffen werden. Sie müssen sich somit zu einem Zeitpunkt mit Themen auseinandersetzen, an dem die Erkrankung noch nicht relevant ist und daher alle Ängste in der Phantasie verbleiben.
"Beteiligte Dritte"
Zusätzlich unterliegt der Zeitpunkt der Kenntnis über eine genetische Belastung in diesen Fällen oft nicht der Person. Wir haben es hier somit mit beteiligten Dritten zu tun. Vorhandene Konflikte in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit der genetischen Disposition nichts zu tun haben, können in diesem Rahmen ausagiert werden.
Familiäre Interaktionen
Daher darf in der Beratung nicht allein die Person, die eine genetische Beratung wünscht, betrachtet werden, sondern es sind die familiären Interaktionen unbedingt mit einzubeziehen, ebenso wie die Folgen auf "unbeteiligte Dritte".

Zu guter letzt sei darauf verwiesen, dass Wissen um die genetische Ausstattung grundsätzliche Auswirkungen auf die sexuelle Lebensqualität und Entscheidungen, welche die Reproduktion betreffen, haben - und zwar in einer Mehrgenerationenperspektive.
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Checkliste zur Beratungserfordernis für Patienten und Ärzte
Ist man sich all dieser Faktoren bewusst, so ergeben sich eine Reihe relevanter Aspekte, die Arzt und Patient im Vorfeld einer genetischen Diagnose klären sollten. Diese Aspekte sind in entsprechenden Checklisten zusammengefasst, die im Rahmen der Arbeitsgruppe "Genetische Beratung" von Jutta Fiegl, Martin Langer, Marianne Ringler, Marianne Springer-Kremser gemeinsam mit den TeilnehmerInnen des Curriculums Psychosomatische Medizin der ÖÄK erarbeitet wurden.

Sie sollen Patienten und Ärzten helfen, eine Entscheidung zu treffen, ob eine psychologisch-psychotherapeutische Beratung indiziert ist. Sie können von beiden Parteien selbständig ausgefüllt werden und auch miteinander verglichen werden, ob und inwiefern Übereinstimmung besteht. Damit dienen sie nicht nur einer raschen und einfachen Indikationsstellung, sondern auch der Überprüfung der eigenen Arbeit und Qualitätssicherung. Wenn eine, jedenfalls aber, wenn mehrere der Fragen auf den Checklisten mit "ja" beantwortet werden, ist dringend eine psychotherapeutische und humangenetische Beratung zu empfehlen.
->   Psychosoziale Beratung in Pränataldiagnostik - Inhalte und Leitlinien
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Unterstützende Gespräche
Erbliche Erkrankungen lösen viele Überlegungen aus, aber auch Ängste und Befürchtungen. Dies gilt nicht allein für den Erkrankten selbst, sondern auch für seine Angehörigen. Manchmal ergeben sich Konsequenzen, die sich einschneidend auf das weitere Leben auswirken, oder die in anderer Weise belastend sind. Es sind vielleicht Entscheidungen nötig, die ganz schwer fallen.

Oft ist es nicht leicht, miteinander die rechten Worte zu finden. Ein psychologisches / psychotherapeutisches Gespräch kann PatientInnen und ihre Angehörigen dabei unterstützen. Ihr Arzt verfügt über eine Liste eigens dafür ausgebildeter Berater und Beratungseinrichtungen. Er/sie wird sie zur Verfügung stellen und bei der Kontaktaufnahme helfen, wenn PatientInnen dies wünschen.
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Gastbeitrag
Die Autorin Marianne Ringler ist Professorin an der Univ.-Klinik f. Tiefenpsychologie u. Psychoanalytikerin (WAP, IPA), Verhaltenstherapeutin, Klinische und Gesundheitspsychologin.
Forschungschwerpunkte: Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, Psychotherapie im Krankenhaus, Psychotherapieausbildungsforschung.
Publikationen: Springer-Kremser M, M. Ringler, A Eder (Hg) Patient - Frau, Springer, Wien 2001, 2.Aflg.
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Weitere Beiträge zum "Diskurstag Gendiagnosti"k auf science.ORF.at
->   Brigitte Ratzer: Gendiagnostik - Chance oder Risiko?
->   Lisbeth N. Trallori: Biotechnologien als Motor gesellschaftlicher Transformation
->   GEN-AU
->   bm:bwk
->   Plattform Gentechnik&Wir
 
 
 
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01.01.2010