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Der Holocaust als "Bruchlinie" des 20. Jahrhunderts  
  Den Begriff "Zivilisationsbruch Auschwitz" hat der Historiker Dan Diner geprägt - als Ausdruck dafür, dass sich der Völkermord an den Juden nicht erklären lässt. Vergangene Woche hat sich eine Tagung des Themas angenommen: Unter dem Titel "Zivilisationsbrüche" haben Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Bereichen - Historiker und Soziologen ebenso wie Phiosophen und Psychoanalytiker - den Stellenwert des Holocaust im Selbstverständnis und Gedächtnis der Gegenwart beleuchtet.  
Veranstalter des 4. internationalen Kongresses zum Forschungsprogramm "Orte des Gedächtnisses", der unter dem Titel "Zivilisationsbrüche. Die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis des beginnenden 21. Jahrhunderts" von 7. bis 9. November im Wien stattgefunden hat, war die Österreichische Akademie der Wissenschaften.
->   Eckpunkte und Kernfragen der Tagung in science.ORF.at
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Forschungsprogramm "Orte des Gedächtnisses"
Das interdisziplinäre Forschungsprogramm "Orte des Gedächtnisses" ist ein Schwerpunkt der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Obmann dieser Kommission ist der Historiker Moritz Csaky.

In einem (auf mehrere Jahre angelegten) Forschungsprojekt versuchen Wissenschaftler die Geschichtsparadigmen, die hinter der Gedächtnis-Kultur stehen, darzustellen: Die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis des beginnenden 21. Jahrhunderts.
->   ÖAW-Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
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Auschwitz: Grenzen der Erzählbarkeit
Dan Diner lehrt am Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Der Holocaust stoße an die Grenzen der Erzählbarkeit, sagt der Historiker.

"Es hat etwas mit dem Ereignis zu tun, das ist keine moralische Kategorie. Wenn man Auschwitz als die industrielle Massenvernichtung in den Vordergrund rückt: Das Industrielle beruht auf der Wiederholung, es ist der mechanische Prozess des Tötens, es ist immer derselbe Vorgang - tageweise, wochenweise, monateweise, jahreweise."

Die Erzählungen der Menschen, die überlebt haben, würden sich im Prinzip nicht von einander unterscheiden - ja, sie könnten sich gar nicht von einander unterscheiden, so Diner. Die Geschichtsschreibung habe sich lange Zeit der Statistik bedient, um über Auschwitz zu erzählen.
Holocaust als Zentrum des Zweiten Weltkrieges
Seit den 80er Jahren markiere der "Zivilisationsbruch Auschwitz" einen Angelpunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts - Diner selbst hat den Begriff vor 14 Jahren mit seinem gleichlautenden Buch geprägt. Der Holocaust sei zum Zentrum des Zweiten Weltkrieges geworden, sagt der Historiker.

Diner spricht von der "gestauten Zeit" - seine Metapher dafür, wie sich der Massenmord in Auschwitz auf die Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges auswirkt. Die Geschichte vor und nach Auschwitz werde vom "Ereignis" (wie er es nennt) angezogen und von ihm kontaminiert, sagt Diner.

Heute könne man nicht mehr über den Zweiten Weltkrieg und das Kriegsgeschehen sprechen, ohne den Holocaust mitzudenken und mitzuempfinden.
Drückt "Auschwitz" alles aus?
Der Holocaust werde auf das Konzentrationslager Auschwitz reduziert, kritisiert hingegen der polnische Historiker Tomasz Szarota. Auschwitz stehe stellvertretend für die Ermordung der Juden durch das NS-Regime.

Hier wurden Millionen Juden in den Gaskammern ermordet. Die Schätzungen reichen von zumindest 1,3 Millionen Ermordeten bis zu vier Millionen. Die Opfer waren von den Nazis nicht registriert worden, die Geschichtswissenschaft hat nach wie vor Mühe, die genauen Opferzahlen zu eruieren.
Vergessene Orte von Verbrechen
Andere Orte in Mittel- und Osteuropa, an denen Zehntausende Juden ermordet wurden, seien einfach vergessen, sagt der Historiker Szarota. Zum Beispiel Odessa, wo an einem Oktobertag im Jahr 1941 mit Unterstützung von Deutschen 24.000 Juden von Rumänen ermordet wurden.

Ein anderer in Vergessenheit geratener Ort sei Belzec. Im diesem Vernichtungslager sind innerhalb von neun Monaten 600.000 Juden ermordet worden. Warum Orte wie Belzec oder Odessa in Vergessenheit geraten seien, könne er nicht erklären, sagt Szarota.
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Teilung in Ost und West als Erklärung?
Der Historiker Norbert Frei von der Ruhr-Universität Bochum bietet als mögliche Erklärung die Teilung Europas in Ost und West nach dem Krieg an: die im Osten begangenen Taten seien nicht mehr Probleme des Westens gewesen.
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Holocaust als "verharmlosender" Deckname?
Die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin befasst sich mit der Weitergabe von Erinnerung, zum Beispiel durch die wenigen Überlebenden der NS-Vernichtungspolitik an ihre Kinder. Sie hinterfragt den Begriff Holocaust als Schablone für Ermordung und Vertreibung und bezeichnet "Holocaust" als "Deckname".

Dabei bezieht sie sich auf ein Zitat von Imre Kertesz, dem ungarischen Literatur-Nobelpreisträger 2002: Kertesz bezeichnet den Begriff Holocaust als einen "Decknamen" für die tägliche Massenmord-, Vergasungs-, Erschießungsroutine und die Massenvernichtung.
Warum wurde nicht "Birkenau" zum Symbol?
Ein anderes Symbol für Ermordung, Vertreibung und Millionen Tote ist Auschwitz. Warum spreche man nicht von Auschwitz-Birkenau oder Treblinka, fragt die Psychoanalytikerin Brainin.

Und der Historiker Tomasz Szarota ergänzt: Auschwitz stehe mittlerweile oft für die Nazi-Verbrechen insgesamt, nicht mehr für die Ermordung der Juden.

Ein Beitrag von Barbara Daser für die Sendung "Dimensionen" am 11.11.2002 ab 19.05 Uhr in Radio Österreich 1
->   Radio Österreich 1
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Literatur zum Thema:
- Moritz Csaky, Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses - Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlust. 256 Seiten. 30 . Passagen Verlag.
- Moritz Csaky, Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses - Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. Die Systematisierung der Zeit. 280 Seiten. 33 . Passagen Verlag.
- Moritz Csaky, Peter Stachel (Hg.): Die Verortung von Gedächtnis. 352 Seiten. 39 . Passagen Verlag.
- Jacques Le Rider, Moritz Csaky, Monika Sommer (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Europa. Gedächtnis - Erinnerung - Identität, Band 1. 208 Seiten. 22 . Studien Verlag.
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->   science.ORF.at: Holocaust als Chiffre für die Universalität der Menschenrechte
 
 
 
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01.01.2010