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Der Mann, der mit den Händen sehen konnte  
  Amerikanische Neurologen berichten von einem Patienten, der aufgrund eines Schlaganfalles erblindet war. Genauere Untersuchungen ergaben, dass dieser unter bestimmten Versuchsbedingungen einen Teil seiner Sehfähigkeit wiedererlangen konnte. Und zwar dann, wenn er seine Hand in seinen Sehbereich bewegte. Dieses zunächst übersinnlich anmutende Phänomen kann tatsächlich naturwissenschaftlich begründet werden: Nervenzellen, die sowohl Tast- als auch für optische Informationen verarbeiten, können den Sehverlust teilweise ausgleichen.  
Von diesem seltsamen Befund berichteten die beiden kalifornischen Neurologen K. Schendel, und L.C. Robertson, University of Berkeley, am aktuellen Treffen der Society for Neuroscience in Orlando, Florida.
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Arm position can modulate human visual field loss
Der Abstract des Vortrags "Arm position can modulate human visual field loss" K. Schendel, und L.C. Robertson wurde auf der Veranstaltungs-Website der Society for Neuroscience veröffentlicht (Program No. 622.1. 2002 Abstract Viewer/Itinerary Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2002.)
->   Zum Original-Abstract
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Die wundersame Welt der Neurologie
Die Welt der Neurologie ist voll wundersamer Geschichten. Am bekanntesten sind wohl jene des amerikanischen Neurologen Oliver Sacks, der in seinen Büchern immer wieder eindrucksvoll zu beschreiben vermochte, zu welch bisweilen grotesken Fehlleistungen Schädigungen des Gehirns führen können.
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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Eine besonders berühmte von Sacks klinischen Fallgeschichten ist jene des Musikwissenschaftlers Dr. P., der an "visueller Agnosie" erkrankt war. Dr. P. erlitt dadurch keinerlei Einbußen seiner formalen und abstrakten Intelligenz, er war aber unfähig, individuelle Gegenstände, insbesondere Gesichter zu erkennen. Dies führte so weit, dass P. eines Tages das Gesicht seiner Frau mit seinem Hut verwechselte. In vielen anderen Lebensbereichen konnte sich P. jedoch souverän orientieren: Ein Musterbeispiel für die funktionale Plastizität des Nervensystems.
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Blindheit durch Schlaganfall
Der von Schendel und Robertson beschriebene Fall steht den bizarren Erzählungen eines Oliver Sacks um nichts nach: Sie berichten von dem Patienten "WM", der aufgrund eines Schlaganfalles im rechten visuellen Cortex zum Teil erblindet war. Die Erblindung umfasste fast die ganze linke Sehhälfte - "WM" beschrieb diesen Mangel als "Loch in seinem Blickfeld".
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Der primäre visuelle Cortex
Der primäre visuelle Cortex (auch primäre Sehrinde, Area striata und V1 genannt) wurde bereits im 19 Jahrhundert als Sehzentrum entdeckt. Er besteht aus ca. 250 Mio. Neuronen und ist in Schichten gegliedert. Im primären visuellen Cortex werden vor allem die Informationen der Fovea centralis, dem Zentrum des Blickfeldes mit der höchsten Sehschärfe, abgebildet. Von der primären Sehrinde ziehen zwei Hauptbahnen zu weiteren Zentren der Informationsverarbeitung: Zum Scheitellappen (Objekterkennung, Form und Farbe) sowie zum Schläfenlappen (Objektlokalisation und Bewegungswahrnehmung).
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Experiment bestätigt Blindheit
Soweit hat der Fall noch nichts Ungewöhnliches an sich. Die beiden Forscher kamen jedoch zu erstaunlichen Ergebnissen, als sie "WM" einem genaueren Sehtest unterzogen. Dabei präsentierten sie ihm blaue Lichtblitze auf einem Computerschirm, der in verschiedenen Bereichen seines linken äußeren Sehfeldes gelegen war. Die erste Versuchsreihe bestätigte: "WM" war im Bereich des linken Sehfeldes blind.
Folgeexperiment: Handposition beeinflusst Sehvermögen
In einer Modifikation des vorangegangenen Versuches veränderte "WM" nun die Position seiner linken Hand: Statt sie, wie zuvor, auf seinen Schoß zu legen, stützte er sie nun in der Nähe des Bildschirmes auf. Das Ergebnis: "WM" war nun imstande, 40% der dargebotenen Lichtblitze zu erkennen!
Neuronen für zwei Sinne
Die Erklärung dieses seltsamen Befundes führt zunächst zurück ins Jahr 1994. Damals hatten die Neurowissenschaftler von der Princeton University in einer aufsehenerregenden Veröffentlichung nachweisen können, dass es sogenannte bimodale Neuronen gibt - Nervenzellen, die durch Reize zweier verschiedener Sinne erregt werden können.
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Bimodale Neuronen
Die Arbeit "Coding of visual space by premotor neurons" von Graziano, M.S.A., Yap, G.S. und Gross, C.G. erschien 1994 im Fachmagazin Science (Band 266, auf den Seiten 1054-1057). Gross und seine Mitarbeiter wiesen darin nach, dass Neuronen im prämotorischen Cortex von Makakken sowohl auf taktile, wie auch visuelle Reize reagieren konnten. Weiterhin zeigten sie, dass die Orientierung der (visuell-taktilen) rezeptiven Felder von der Armpostition abhängig war (siehe Abbildung).
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Bild: Science

Graziano, Yap und Gross zeigten bereits im Jahr 1994 an Makakken, dass die Position gewisser rezeptiver Felder von der Stellung der Extremitäten abhängig ist.
Die Funktion bimodaler Nervenzellen
Der biologische "Sinn" solcher Neuronen: Sie repräsentieren die körpernahe Umgebung und spielen eine besondere Rolle bei der Ausführung von Greifbewegungen.

Schendel und Robertson vermuten nun, dass im Fall des Patienten "WM", solche bimodale Nervenzellen zu einer Abschwächung der Sehunfähigkeit geführt haben könnten.
Die Erklärung des Phänomens
Der biologische Hintergrund: Die Augen von "WM" waren nach wie vor voll funktionstüchtig. Seine Blindheit entstand - wie erwähnt - nur dadurch, dass ein Teil seiner primären Sehrinde durch einen Schlaganfall geschädigt wurde.

Offensichtlich konnten die bimodalen Nervenzellen einen Teil der Seh-Information dergestalt weiterverarbeiten, sodass der Patient sich der Eindrücke bewusst wurde. Die Abhängigkeit von der Handstellung ergibt sich wiederum aus der Veränderbarkeit rezeptiver Felder, wie sie bereits von Graziano, Yap und Gross nachgewiesen wurde.
Erklärungsansatz: "It's cool"
Michael Goldberg von der Columbia University, seines Zeichens Spezialist für bimodale Neuronen, kommentiert den Erklärungsansatz von Schendel und Robertson kurz - aber sehr positiv: "I think it's cool."

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010