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SS-Aufseherinnen in den NS-Konzentrationslagern  
  Die Rolle der SS-Aufseherinnen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurde bisher sowohl von der Geschichtsforschung als auch in Erinnerungsberichten ausgespart, oder nur fragmentarisch behandelt. Mit den Gründen für diesen Nachholbedarf beschäftigt sich Elissa Mailänder-Koslov im Rahmen einer Dissertation, die mit einem DOC-Stipendium der ÖAW gefördert wurde. science.ORF.at bringt dazu einen Gastbeitrag in der Reihe "Young Science".  
Ganz gewöhnliche Frauen ? SS-Aufseherinnen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1933-1945)
Von Elissa Mailänder-Koslov

Beim Thema "Frauen im Nationalsozialismus" und insbesondere bei der Gewalttäterinnen Problematik gibt es für die historische Forschung noch einige zu erschließende Gebiete. So steckt beispielsweise die "KonzentrationslagertäterInnenforschung" noch in ihrem Anfangsstadium und konzentrierte sich bisher auf die SS-Eliten, sprich die höheren SS-Funktionäre in den Konzentrationslagern.

Über die SS-Aufseher bzw. -Aufseherinnen existieren bis heute nur vereinzelte historische Studien, die diesbezügliche Forschung beschränkt sich auf die Debatten in den Fachzeitschriften. Auch ein Blick auf die zahlreichen autobiographischen Zeugenberichte und die Oral-History-Projekte führt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Der persönliche Kontakte fehlte
Obwohl die weiblichen Häftlinge in täglichem, direktem Kontakt mit den SS-Aufseherinnen standen, beispielsweise bei den täglichen Morgen- und Abendappellen oder bei den diversen Arbeitskommandos, wo die SS-Aufseherinnen als Aufsichtspersonal präsent waren, stand die Mehrheit der Häftlingsfrauen in keinem persönlichen Kontakt mit den Aufseherinnen.
Ein umstrittenes Thema
Dies erklärt sich anhand der Organisation der Konzentrationslager, die vorsah, bestimmte - teilweise auch sehr problematische und kompromittierende - Funktionen mit so genannten Funktionshäftlingen oder Kapos zu besetzen. Die partielle "Zusammenarbeit" zwischen SS und Häftlingen ist unter den Häftlingen allgemein ein äußerst umstrittenes Thema, das lange Zeit in den Erinnerungsberichten keinen Eingang fand.

Erst Mitte der 1980er Jahre erhielt dieser Zwischenraum durch Primo Levi als "Grauzone" eine offizielle Benennung, blieb aber in den Erinnerungsberichten und -gesprächen mit den Opfern weiterhin marginal.
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SS-Personal in der historischen Forschung
Auch die historische Forschung hat sich lange nicht für das Thema SS-Personal interessiert. Die ersten, die sich wissenschaftlich mit der Konzentrationslagergesellschaft beschäftigten, waren die ehemaligen Lagerhäftlinge Hermann Langbein, Eugen Kogon und David Rousset. Die breite Öffentlichkeit wurde mit dem Thema erst zu einem späteren Zeitpunkt, im Zusammenhang mit den großen Nachkriegsprozessen konfrontiert.

Insbesondere der Eichmannprozess in Jerusalem setzte ab 1960 eine Welle von Prozessen in der BRD in Gang. Es dauerte jedoch Jahrzehnte, bis auch die Forschung sich der Täter annahm. Mit Raul Hilberg und insbesondere Christopher Browning setzte schließlich die so genannte Täterforschung ein, zu einem Zeitpunkt , als die Zeitzeugen allmählich verschwanden.
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Die "Erinnerungskultur" der Nachkriegsgesellschaft
Die Forschungslücke bzw. die späte Thematisierung der Täter bzw. Täterinnen in der Forschung zeigt klare Parallelen zur Gestaltung der TäterInnenproblematik in den Gedenkstätten.

Wie Insa Eschebach betont, ging eine Thematisierung des SS-Personals sowohl in der BRD, als auch in der auf einem antifaschistischen Gründermythos beruhenden DDR sowie der Zweiten Republik Österreich über eine Dämonisierung nicht hinaus. Die Täterproblematik - geschweige denn die Täterinnenproblematik - passten wenig in die mühsam konstruierte Erinnerungskultur der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft.
Auch die Forschung hat sich dem Thema entzogen
De facto haben sich weder die "Nachkriegs-TäterInnengesellschaften" noch die historische Forschung mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Warum aber hat sich die Forschung bzw. Öffentlichkeit so lange der Aufarbeitung dieses Themas entzogen?

Ein entscheidender Faktor ist sicherlich die Tatsache, dass der Umgang mit dem Völkermord und den nationalsozialistischen Verbrechen stark von Politik und Gesellschaft geprägt ist. Dies haben vor allem die wissenschaftliche Aufarbeitung der Nachkriegsjustiz und die Forschung zur Entnazifizierung in den letzten Jahren gezeigt.
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Das Dissertations-Projekt
Die in Angriff genommene Dissertation versteht sich als sozio-historische Fallstudie über die Ausprägung und Wahrnehmung von Gewalt und Grausamkeit bei den SS-Aufseherinnen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Folgende beiden Themenkomplexe stehen im Vordergrund der Arbeit: 1) Die prosopographische Untersuchung des weiblichen Bewachungspersonals und 2) die Herausarbeitung und Analyse ihrer Verhaltensmuster bzw. die Eruierung ihrer Handlungsräume.
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Schwerzliche Erinnerung
Besonders die Zusammensetzung "Frauen" und "SS", sprich "Frauen" und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erweist sich nicht nur für die NachkriegstäterInnengesellschaft als ein äußerst heikler Themenkomplex. Es scheint auch für die ehemaligen Häftlingsfrauen besonders schmerzhaft und schmachvoll, über Misshandlungen von Seiten "Ihresgleichen" zu sprechen.
Unbehagen in der Forschung
Warum ruft die Beschäftigung mit SS-Aufseherinnen nicht nur bei den Opfern, sondern auch in der Forschung so viel Unbehagen hervor? Geschlecht als solches sollte in diesem Zusammenhang eigentlich eine neutrale Kategorie sein, weder positiv noch negativ konnotiert, da "Frausein" eine Täterschaft nicht ausschließt. Und schließlich dürfen diese Frauen von der Geschichtsforschung vergessen werden, nur weil ihre Zahl im Vergleich zu den männlichen Tätern gering erscheint?

Es erweist sich jedoch als äußerst schwierig, die blutige und grausame Täterschaft der SS-Aufseherinnen in den Konzentrationslagern zu thematisieren. Das wissenschaftliche Interesse an der Tat ist nicht unproblematisch, weil es auf den ersten Blick sensationslüstern erscheinen mag.
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"Ganz gewöhnliche" Frauen
Bei einer näheren Beschäftigung mit dieser Täterinnengruppe zeigt sich klar, dass es sich um "ganz gewöhnliche" deutsche und österreichische Frauen handelt. Gerade diese Entdeckung bricht mit dem vorherrschenden Klischee von wilden sadistischen Bestien, eine Vorstellung und Pathologisierung, die nicht nur jegliche Identifikation von vornherein ausschließt, sondern auch die selbstkritische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen umgeht. Gerade die Durchschnittlichkeit dieser Frauen, die ihnen das mühelose Untertauchen in die Nachkriegsgesellschaft ermöglichte, erscheint für dieses Forschungsvorhaben besonders interessant und untersuchenswert.
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Untersuchung einer Gruppe von Aufseherinnen
Da es derzeit noch unmöglich ist, die Gruppe der SS-Aufseherinnen als Ganzes zu untersuchen, die einer SS-Statistik vom 15. Januar 1945 zufolge auf 3.508 Frauen geschätzt wird, es aber andererseits wenig Sinn macht, wie bisher in der Forschung eine einzelne herausragende Persönlichkeit aufzugreifen, hat sich diese Arbeit von Anfang an zum Ziel gemacht, eine möglichst gut dokumentierte Gruppe von SS-Aufseherinnen zu fokussieren, um die Werdegänge von SS-Aufseherinnen nachzeichnen zu können.
Am Beispiel des Majdanek-Prozesses
Anhand des Majdanek Prozesses, der zwischen 1975 und 1981 in Düsseldorf stattfand, soll die Gewaltausübung der SS-Aufseherinnen am Beispiel des Konzentrationslagers Majdanek ermittelt und untersucht werden. Diese Quelle erlaubt uns auch eine "Langzeit-Perspektive" einzunehmen.

Um die Dimension des Phänomens der weiblichen Gewalt und Grausamkeit erfassen und adäquat einschätzen zu können, scheint es sinnvoll, zwar auf die Konzentrationslagerzeit zu fokussieren, gleichzeitig aber auch das "Davor" bzw. das "Danach" zu berücksichtigen.
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Fragen der Untersuchung
Folgende Fragenkomplexe stehen im Zentrum der Arbeit:
1. Wie kommen die Aufseherinnen ins Lager? (Vorgeschichte, Rekrutierung etc.)
2. Wie sozialisieren sie sich im Lager? (Eingliederungs- bzw. Anpassungsprozess, Verhalten im Konzentrationslager etc.)
3. Wie gliedern sie sich in die zivile Nachkriegsgesellschaft ein und wie rechtfertigen sie sich vor Gericht? Untertauchen, Verfolgung durch die Justiz, Rehabilitation etc.)
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"Zivilisationsbruch" oder Kontinuität ?
So soll schließlich ermessen werden, ob es sich tatsächlich um einen "Zivilisationsbruch" handelt, oder nicht vielmehr um eine Kontinuität in der modernen Gesellschaft.

Wie Hannah Arendt bereits unmittelbar nach der Katastrophe in ihrem Aufsatz "Die vollendete Sinnlosigkeit" festgestellt hat, handelt es sich bei den Einrichtungen der Konzentrations- und Vernichtungslager um ein Phänomen, das sich unserem menschlichen und wissenschaftlichen Begriffssystem zu entziehen scheint: "Es zwingt Sozialwissenschaftler und Historiker, ihre bislang nicht in Frage gestellten Grundannahmen über den Lauf der Welt zu überdenken."
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"Young Science" - Gastbeitrag
Elissa Mailänder Koslov, geboren in Meran (Italien); 1992-1997 Studium der Romanistik, Komparatistik und deutschen Philologie an der Universität Wien (Mag. phil.); 1997-1999 Studium an der Universität Sorbonne Paris IV (Maîtrise de Littérature et Civilisation allemandes); seit 2000 Doktorandin in "Histoire et Civilisation" an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) und Centre de Recherches Interdisciplinaires sur l"Allemagne (CRIA); 2001 Junior Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM); 2000-2003 DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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Weitere Beiträge in der Reihe "Young Science"
->   Bernhard F. Seyr: Prüfungsanerkennung - wozu?
->   Gerhard Tischler: "Fressen um zu Überleben"
Flussbarsche - "Piranhas" unserer Seen?
->   Eveline Wandl-Vogt: Die Dialektdatenbank Österreich - Zwischen Tradition und Fortschritt
->   Manfred Jeitler: Materie und Antimaterie, Teil 1
->   Manfred Jeitler: Materie und Antimaterie, Teil 2
->   Angelika Krebs: Mikrotuboli - "Seilbahnen" innnerhalb der Zellen
->   Herbert Karner: Jesuitenarchitektur in Italien 1540 - 1773
->   Andrea Hickel: Auf der Spur neuer Antibiotika
->   Gregor Rainer: Neue Einblicke in das menschliche Gehirn
->   Hubert Bergmann: Kein "Zwutschkerl": Bairische Mundarten in Österreich
->   Angela Bergermayer: Spurensuche nach slawischen Wurzeln
->   Laurenz Widhalm: Symmetrien: Ordnungsmuster in der Natur
->   Rainer Kurmayer: Giftigen Blaualgen in Österreichs Seen auf der Spur
->   "Young Science" auf der Homepage der ÖAW

 


Die Österreichische Akademie der Wissenschaften fördert im Rahmen von DOC [DOKTORANDENPROGRAMM DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN] junge österreichische DoktorandInnen für Forschungsvorhaben im In- und Ausland.
->   Informationen zum DOC-Programm
 
 
 
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01.01.2010