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"Einmaleins der Skepsis": Der Umgang mit Statistiken  
  Fehlschlüsse und falsche Interpretationen von statistischen Informationen können fatale Folgen etwa für die eigene Gesundheit haben. Diese These belegt der Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer an Hand zahlreicher Beispiele in seinem Buch "Das Einmaleins der Skepsis". Demnach sind Menschen für den Umgang mit Statistiken nicht wirklich gut gerüstet - doch es gibt auch Tricks, mit denen man dieses Manko ausgleichen kann.  
Gigerenzer und seine Mitarbeiter untersuchen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wie Menschen Informationen verarbeiten und Entscheidungen treffen.
Evolutionäre Denkmuster und Routinen
Das funktioniert bei Menschen anders als bei einem Computer, meint Gigerenzer, denn im Lauf der Evolution haben sich bestimmte Denkmuster und Routinen ausgebildet, die oft schnell und mit wenig Aufwand zu guten Ergebnissen führen.

Doch immer sollten wir uns auf diese an sich erfolgreichen Denkgewohnheiten nicht verlassen, denn gerade für den Umgang mit statistischen Informationen ist der Mensch offenbar nicht gut gerüstet.
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Bild: Berlin Verlag
Informationen zu Buch und Autor
Gerd Gigerenzer: "Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken"; 406 Seiten, Berlin Verlag (2002), ISBN: 3-8270-0079-3.

Der Autor ist Professor für Psychologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er leitet den Forschungsbereich "Adaptives Verhalten und Kognition". Gigerenzer hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und war u.a. Preisträger der American Association for the Advancement of Science für die Verhaltenswissenschaften.
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Missverständnisse und Fehlschlüsse: Aktuelle Beispiele
Zu welchen groben Missverständnissen und Fehlschlüssen es durch Fehlinterpretationen von statistischen Daten kommen kann, zeigt Gigerenzer an aktuellen Beispielen wie der Diskussion um das Brustkrebs-Screening, der AIDS-Diagnostik, aber auch der DNA-Analyse in der Rechtssprechung und anderen Lebensfeldern.

Und zwar nicht nur bei Laien, sondern nachweislich auch bei Medizinern, Juristen, Psychologen und Finanzexperten. Der Psychologe erklärt auch, warum wir Schwierigkeiten im Umgang mit Risiko und Wahrscheinlichkeiten haben und wie wir lernen können, mit statistischen Informationen richtig umzugehen.
AIDS-Tests: Selbst Fachleute nicht gut informiert
Ein Beispiel, das Gigerenzer in seinem Buch erläutert: Die statistische Zuverlässigkeit von AIDS-Tests. Einer seiner Studenten stellte sich in über 20 Beratungsstellen in verschiedenen Städten Deutschlands vor und fragte, was ein positiver Test in seinem Fall - keinerlei Risikofaktoren - bedeuten würde:

Fast alle Berater sagten ihm voller Überzeugung, die Möglichkeit eines Irrtums läge nahe bei Null, weil der Test zu 99,9 Prozent sicher sei. Die Angabe zur Testsicherheit ist richtig, aber die Schlussfolgerung daraus ist falsch: In Wirklichkeit ist sogar jede zweite positive Diagnose bei Menschen aus keiner Risikogruppe "falsch-positiv".
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Eines der Wissenschaftsbücher des Jahres 2002
Gerd Gigerenzers Buch "Das Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken" wurde nun von einer "Bild der Wissenschaft"-Jury aus Fach- und Medienleuten zu einem der Wissenschaftsbücher des Jahres 2002 gewählt: Es ist Sieger in der Kategorie "Wissenschaftsbuch, das am besten über ein Thema informiert".
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Brustkrebs: Wahrscheinlichkeit bei positivem Befund?
Am Beispiel Brustkrebs zeigt Gigerenzer, wie ein informierter Umgang mit unsicheren Ergebnissen zu mehr Gelassenheit und Lebensqualität führen kann: Entgegen landläufiger Annahmen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine 40-jährige Frau Brustkrebs hat, nur bei etwa einem Prozent.

Ein Krebsherd wird mit 90-prozentiger Sicherheit durch eine Mammografie erkannt. Von den weitaus zahlreicheren nicht an Brustkrebs erkrankten Frauen werden jedoch auch neun Prozent einen falsch-positiven Befund erhalten.

Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit einem positiven Mammografie-Befund tatsächlich Brustkrebs hat? Die meisten Ärzte, denen Gigerenzer diese einfache Frage stellte, meinten, diese Wahrscheinlichkeit läge im Bereich von 90 Prozent.
Tatsächliche Wahrscheinlichkeit: Nur zehn Prozent
Doch die tatsächliche Wahrscheinlichkeit liegt unter zehn Prozent: Das lässt sich am Beispiel von 1.000 Frauen schnell demonstrieren: Zehn Frauen von den 1.000 haben Brustkrebs und 990 nicht. Von den zehn krebskranken Frauen erhalten neun ein positives Mammogramm, von den 990 anderen Frauen testen jedoch 89 (neun Prozent) falsch positiv.

Insgesamt bekommen damit 98 Frauen einen positiven Befund, doch nur neun davon sind tatsächlich krebskrank, also sogar weniger als zehn Prozent.
Die Pharmaindustrie und "relative Risikoverminderung"
Die "Zahlenblindheit" der Mehrheit wird auch kommerziell ausgenutzt, meint der Psychologe Gigerenzer. Pharmahersteller etwa bewerben ihre Produkte zum Beispiel am liebsten mit Angaben zur "relativen Risikoverminderung".

Senkt beispielweise ein Medikament die Sterberate von ursprünglich sechs von 1.000 Personen auf vier von 1.000, so hat sich das Sterberisiko durch die Einnahme dieser Tabletten um 33,3 Prozent verringert.

Das klingt beeindruckend. Weit beeindruckender jedenfalls als die absoluten Zahlen: Denn durch das Medikament bleiben nur zwei von 1.000 Personen mehr am Leben als ohne die Behandlung. Die absolute Verringerung des Risikos ist demnach nur 0,2 Prozent.
Nicht nur Mathematiker können den Umgang lernen
Doch alle Menschen können - auch ohne formale Mathematikausbildung - lernen, mit "unsicheren" Informationen richtig weiterzudenken, sagt Gigerenzer. Allerdings müssen uns diese Informationen in einer Art gegeben werden, die wir von Natur aus gut verstehen:

Anstatt von abstrakten Wahrscheinlichkeiten in Prozentangaben zu reden, sollte man sich lieber die betroffenen Menschen vorstellen, die zu bestimmten Gruppen gehören, wie in dem beschriebenen Mammografie-Beispiel. Denn in diesen Kategorien kann der Mensch offenbar wesentlich klarer denken.
->   Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
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01.01.2010