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Verhaltensgenetik: Juwelen im "biologischen Abfall"  
  Die Suche nach den genetischen Ursachen von Verhaltensstörungen dauert nun schon mindestens 20 Jahre - allein der entscheidende Erfolg hat sich noch nicht eingestellt. Eine amerikanische Genetikerin hat darauf eine schlüssige Antwort: Möglicherweise hat man bis dato an den falschen Stellen des menschlichen Erbguts gesucht. Fündig wurde man nun in solchen Genom-Bereichen, die ehemals despektierlich als "Junk-DNA" bezeichnet wurden.  
L. Alison McInnes von der Mt. Sinai School of Medicine, New York, präsentierte im Rahmen eines Symposiums in San Juan, Puerto Rico, eine interessante Hypothese. Sie meint, dass sich die genetischen Ursachen des Verhaltens bisweilen deshalb ihrer Entdeckung widersetzten, weil man bis dato davon ausging, dass diese in jenen Regionen des Erbgutes lägen, die in Proteine übersetzt werden.

McInnes und ihre Mitarbeiter widerlegten diese Annahme. Sie zeigten, dass vermeintlich nutzlose Nukleinsäuren - so genannte "snmRNAs" - die idealen Kandidaten für die Suche nach der Nadel im verhaltensgenetischen Heuhaufen sind.
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"The discovery of novel noncoding RNA molecules"
Der Vortrag "The discovery of novel noncoding RNA molecules
in candidate genes for psychiatric disorders" von L. A. McInnes wurde im Rahmen des 41. jährlichen Treffens des American College of Neuropsychopharmacology (AMCN) vorgetragen.
->   AMCN
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Boom der Genetik
Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht von der Entzifferung des Erbgutes eines neuen Organismus berichtet wird. Und dort, wo die Sequenz des Genoms schon länger bekannt ist - wie etwa beim Menschen -, stürzen sich die Forscher nun auf die nächsthöheren Ebenen der biologischen Information: Im Jargon der Molekularbiologen spricht man dann vom so genannten "Transkriptom", "Proteom", "Physiom" etc.
Harte Nuss - Genetik der Verhaltensstörungen ...
Angesichts des allgemeinen Booms der Genetik wäre anzunehmen, dass auch die Verhaltensgenetiker von ähnlichen Erfolgen wie ihre Kollegen aus den Sequenzierungs-Labors berichten können. Doch dem ist nicht so: Die Daten-Suppe, die von Verhaltensgenetikern zutage gefördert wird, ist relativ dünn.
... ist nicht zu knacken
Das hat zunächst biologische Gründe: In den medizinischen Wissenschaften gibt z.B. es den Begriff der "monogenen Erbkrankheiten". Dieser bezeichnet Erkrankungen, die von einem (mutierten) Gen verursacht werden.

Vor allem Stoffwechselstörungen fallen in diese Klasse. In Bezug auf Verhaltensstörungen gibt es aber keine entsprechende Gruppe, das "Gen für Angstzustände, Trunksucht oder Aggression" gibt es nicht.
Die Gründe: viele Ursachen auf vielen Ebenen
Und zwar deswegen, weil Verhalten als komplexe Eigenschaft durch eine Reihe verschiedener Gene beeinflusst wird. Außerdem treten noch weitere biologische (z.B. so genannte epigenetische Effekte) und last but not least soziale Faktoren (Erziehung, kultureller Kontext etc.) hinzu.

Die Verhaltensgenetiker müssen sich also in Bescheidenheit üben. Ihr Untersuchungsgegenstand unterscheidet sich prinzipiell von jenem der Stoffwechselgenetiker.
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Verhaltensgenetik - wissenschaftlicher Reduktionismus?
Die Gegner der genetischen Erforschung des Verhaltens halten aufgrund dieser Tatsache ein wissenschaftstheoretisches Schimpfwort - den so genannten "ontologischer Reduktionismus" - parat. Den Fehler eines solchen ontologischen Reduktionismus begehen nach diesem Vorwurf solche Forscher, die in den (einzelnen) Genen die alleinige Ursache für Eigenschaften des Menschen sehen. Der Biologe Julian Huxley umschrieb diese engstirnige Attitüde einmal spöttisch mit den Worten "Nothing else buttery". Verhaltensgenetiker antworten darauf für gewöhnlich, dass man sich lediglich eines "methodologischen Reduktionismus" bediene, d.h. zu Forschungszwecken eine Vereinfachung der Kausalbeziehungen vornehme - ohne allerdings die Existenz nicht-genetischer Faktoren zu leugnen.
->   Mehr zum Reduktionismus
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Forschungen unter falscher Prämisse?
L. A. McInnes von der amerikanischen Mt. Sinai School of Medicine bringt in die Diskussion um die genetischen Ursachen von Verhaltensstörungen ein neues Argument.

Sie meint, dass den bisherigen genetischen Forschungen auch deswegen der durchschlagende Erfolg versagt blieb, weil man diese auf Basis einer grundfalschen Annahme betrieben hätte.
Juwelen im biologischen "Junk"
Bislang ging man nämlich davon aus, so McInnes in ihrem Vortrag am jährlichen AMCN-Treffen, dass man die genetischen Ursachen von Verhaltensstörungen in jenen Bereichen des Genoms finden müsse, die für Proteine codieren.

McInnes meint nun, dass die optimalen Kandidaten gerade in solchen Regionen liegen, die man früher undifferenziert als biologischen Abfall ("Junk DNA") bezeichnet hätte.
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Introns, Exons und "genetischer Abfall"
Grundsätzlich kann man zwischen zwei Typen von Regionen im Erbgut unterscheiden. Zum einen jene Gen-Bereiche, die in Proteine übersetzt werden, die so genannten Exons, und jene für die das nicht gilt: die so genannten Introns. Davon zu unterscheiden sind die so genannten "Noncoding regions". Die letzten beiden Gruppen wurden mitunter - vermutlich zu unrecht - unter dem Begriff "Junk DNA" zusammengefasst. Mittlerweile häufen sich (z.B. im Rahmen der so genannten "RNomics") die Hinweise, dass auch der vermeintliche genetische Abfall biologische Funktionen haben kann.
->   Mehr zur "Junk DNA"
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Kleine Hoffnungsträger: "snmRNAs"
Konkret bezieht sich McInnes auf die so genannten "Small non-messenger RNAs" (snmRNAs), kleine Moleküle, die zwar von der DNA-Matrize abgeschrieben, aber trotzdem nicht in Proteine übersetzt werden.

McInnes und ihre Mitarbeiter identifizierten ein snmRNA-Molekül, das im so genannten CRH-Gen liegt. Diese ist nach Ansicht von McInnes ein ideales Ziel für weitere verhaltensgenetische Analysen.
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Das CRH-Gen im Kausalnetz der Krankheitsursachen
Das Kürzel CRH steht für "Corticotrophin releasing hormone". Diese Gen spielt eine Schlüsselrolle bei Angstreaktionen von Menschen und anderen Säugetieren. Das Genprodukt wirkt an einer Reihe von Orten im Zentralnervensystem, die in Verbindung mit automatischen, verhaltensbezogenen und immunologischen Reaktionen auf Stress stehen. Mutationen im CRH-Gen scheinen wiederum mit mentalen Störungen wie Depressionen, Angstzuständen oder Anorexia nervoas zusammenzuhängen. Zudem berichtete McInnes dass sich die CHR-snmRNA mit einer Gensequenz eines Rezeptors (der NMDA-Glutamat-Rezeptor) paaren kann, der seinerseits einen wichtige Rolle bei degenerativen neurologischen Erkrankungen spielt.
->   Mehr zu CRH
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Moleküle im Gehirn
Mit diesem Ergebnis steht die Arbeitsgruppe um L.A. McInnes nicht alleine da. In den letzten Jahren hat man hunderte solcher nicht codierender RNAs gefunden. Man vermutet, dass diese als regulatorische Moleküle in den genetischen Apparat eingreifen.

Für die von McInnes und Mitarbeitern favorisierten snmRNAs als Kandidatenmoleküle für Verhaltensstörungen spricht nach deren Auskunft auch folgender Befund: "Sie kommen nur in einem Organ in hohen Konzentrationen vor: Und zwar im Gehirn".

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Mt. Sinai School of Medicine
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01.01.2010