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Widersprüchlich: Jean-Paul Sartre Superstar  
  Wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts verkörperte Jean-Paul Sartre den Typus des universellen Intellektuellen, der sich medienwirksam in Szene setzte. Er profilierte sich als Philosoph des Existenzialismus, später als Sprachrohr des doktrinären Kommunismus. Sartre schrieb Bühnenstücke und Romane, verfasste Essays, fungierte als Herausgeber maoistischer Zeitschriften und verstand sich als politischer Aktivist. Bernard Henri Levy, zunächst Schüler, später Gegner Sartres, beschreibt Leben und Werk des französischen Philosophen in einem aktuellen Buch in all seiner Widersprüchlichkeit.  
Renaissance eines gefeierten Philosophen

Nach Sartres Tod 1980 verblasste der Ruhm des gefeierten Philosophen. Sein Denken galt - angesichts des postmodernen Theorientaumels von Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Roland Barthes - als veraltet.

Seine politischen Ideen eines revolutionären Marxismus wurden von den "Neuen Philosophen" wie Bernard-Henri Levy scharf kritisiert. Von eben diesem Philosophen erschien nun eine ungewöhnliche Biografie Sartres, die in Frankreich auf große Anerkennung stieß.
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Das Buch
Bernard-Henri Levy: Sartre. Der Philosoph des 20.Jahrhunderts, Hanser Verlag
->   Das Buch im Hanser Verlag
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Levys Intention: Widersprüchlichkeit aufzeigen
Levy zeichnet in seiner Biografie, die er als eine Mischung von Ideengeschichte und intellektueller Biografie, Porträt und zeithistorischem Dokument versteht, einzelne Stationen dieser permanenten Revolte nach.

Er beurteilt sie nicht, sondern versucht, sie vom jeweiligen, zeitgenössischen Kontext zu beleuchten und auch die Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, die für Sartre typisch sind.
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Zitat I: "Selbstwiderspruch"
"Jeden Augenblick verrate ich mich, widerlege mich, widerspreche ich mir. Ich bin nicht derjenige, dem ich mein Vertrauen schenken würde."
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Zwei Seelen in einer Brust
Levy unterscheidet bei Sartre zwei einander widersprechende Denkansätze: Einerseits der "junge" oder "frühe" Sartre, der existenzialistische Sartre, der die radikale Einsamkeit des Individuums propagiert, andererseits der "späte" Sartre, der die Bedeutung des Kollektivs akzentuiert und sich als Handlanger stalinistischen Terrors missbrauchen lässt.
Klassiker: "Das Sein und das Nichts" mit ...
Mit großer Anteilnahme schildert Levy den "frühen" Sartre, den Autor des Romans "Der Ekel", den Verfasser der monumentalen Studie "Das Sein und das Nichts", das mittlerweile zu den philosophischen Klassikern des 20.Jahrhunderts zählt.

In diesem Werk geht Sartre von zwei verschiedenen Seinsweisen aus, die nicht miteinander vermittelt werden können.
... "An-sich-sein" und "Für-sich-sein"
Das "An-sich-sein" verkörpert die Dingwelt, die Materie, das Sein, das einfach nur da ist, mit sich selbst identisch.

Das "Für-sich-sein" ist hingegen die Fähigkeit, bewusst über seine eigene Existenz zu reflektieren. Nur der Mensch hat das Privileg, sich zu seinem Leben zu verhalten; er ist aufgerufen, seine Existenzform zu wählen, wobei er bedenken muss, dass sie niemals etwas Abgeschlossenes, Endgültiges sein kann.
Bruch nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte ein fundamentaler Bruch im Denken Sartres. Er bezog sich auf marxistische Positionen, die seinen Individualismus als kleinbürgerliche Haltung diffamierten und ihn veranlassten, das Kollektiv als zentrale Instanz zu betrachten.
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Zitat II: "Individuum bedarf des Kollektivs"
"Ich bin keineswegs mehr der Partisan eines absoluten Individualismus, für den man mich lange Zeit gehalten hat. Ich denke vielmehr, dass sich ein Individuum nur innerhalb einer Gruppe, einer Gemeinschaft entfalten kann, in der es mit den anderen Individuen gemeinsam arbeitet, Entscheidungen trifft und sich selbst verwaltet. Das Individuum bedarf der kollektiven Sphäre, davon bin ich überzeugt; ich habe diesbezüglich meine Ansichten geändert."
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Ursache: Kriegsgefangenschaft
Lévy stellt sich die Frage, wie es möglich war, dass aus dem Partisan eines absoluten Individualismus ein Befürworter des Kollektivismus werden konnte. Die Antwort findet sich in Sartres Kriegsgefangenschaft in Deutschland, wo der vereinzelte Intellektuelle die Geborgenheit der Gemeinschaft kennen lernte.
Blind für den Terror
Sartres Eintreten für das Ideal des Kollektivs, das er in der "Kritik der dialektischen Vernunft" ausführlich begründete, machte ihn blind für den Terror der totalitären kommunistischen Regime. So verteidigte er die Gräueltaten von Stalin und Mao-tse-tung und pries Fidel Castro als Lichtgestalt des revolutionären Handelns.
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Zitat III: "Bourgeois verdient Todesstrafe"
"In einem revolutionärem Land, in dem man die Bourgeoisie entmachtet hat, würde der Bourgeois, der Aufruhr stiftet, die Todesstrafe verdienen.
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Levy spricht von Besessenheit
Levy reagiert mit Betroffenheit auf solche Aussprüche. Sein Urteil lautet: Sartre ist besessen: "Das ist ein anderer Sartre; ein verrückter, beunruhigender Sartre, der, je nachdem, Erschrecken, Verblüffung und Abscheu hervorrufen mag - und der jedenfalls unverständlicher ist als je zuvor."
Letzte Revolte: Studium des Talmuds
Der greise, blinde Sartre verwarf gegen Ende seines Lebens die bisher ausgearbeiteten Theorien und widmete sich dem Studium des Talmuds, den er durch die Vermittlung seines Sekretärs Benny Levy genauer kennen lernte.

In der Auseinandersetzung mit der jüdischen Religionsphilosophie sah Sartre - meint jedenfalls Lévy - möglicherweise Auswege aus seinen Widersprüchen.
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Werke von Jean-Paul Sartre
Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays
Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft
Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie
Kritik der dialektischen Vernunft
Der Ekel. Roman
Die Kindheit eines Chefs. Gesammelte Erzählungen
Der Aufschub. Wege der Freiheit.
Geschlossene Gesellschaft
Saint Genet. Komödiant und Märtyrer
Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert, Band 1- 5
Alle Werke Sartres sind im Rowohlt Verlag erschienen.
->   Werke und Biografie Sartres im Rowohlt Verlag
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Sartres Aktualität
Sartres Wille, alles umzustürzen; das kompromisslose Denken gegen sich selbst, die radikale Infragestellung der eigenen Person - all das sind Eigenschaften, die Sartre heute aktuell machen.

Bei ihm ist keine Rede von einem umfassenden Konsens, er ist der Intellektuelle der Widersprüche, der sich von seinem aktuellen Engagement leiten lässt, ohne mögliche ideologische Verirrungen zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen dabei sei - so Levy - die singuläre Gestalt von Sartre.
Fazit von Levy
"Vielleicht ist Sartre eine Art Ungeheuer. Vielleicht bedurfte es einer gewissen Ungeheuerlichkeit, um Sartre zu sein, um jener bizarre, einzigartige, ein wenig verrückte Denker zu sein, von dem viele Äußerungen, wären sie aus einem anderen Mund gekommen, katastrophale Folgen gehabt hätten," schreibt Levy.

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen vom 10. Jänner 2003, 19.05 Uhr
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01.01.2010