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Denis Diderot: Der zynische Philosoph  
  Diderot zählt zu den vielseitigsten Gelehrten der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Er war Autor zahlreicher philosophischer Werke und verfasste Romane wie "Jacques der Fatalist" und "Rameaus Neffe", die heute zur Weltliteratur zählen. Vor allem fungierte er aber als Herausgeber der legendären "Encyclopedie", die das gesamte Wissen der damaligen Zeit versammelte.  
Diderot verstand sein Denken als ein umherschweifendes, nomadisierendes Denken, das auch vor Angriffen auf Staat und Kirche nicht zurückschreckte. Er stellte die absolutistische Monarchie radikal in Frage.

"Kein Mensch hat von Natur aus das Recht erhalten", so notierte er, "über andere zu gebieten". Wegen seiner religionskritischen Schriften verbrachte er mehrere Monate im Gefängnis.
Diderot als "moderner Intellektueller"

Denis Diderot
Umberto Eco bezeichnete Diderot als "ersten Werktätigen in der Kulturindustrie" und Hans Magnus Enzensberger schrieb über ihn: "Lebte er heute, hätte er einen Presseausweis und wäre freier Mitarbeiter beim Rundfunk, Fernsehen und in den Verlagshäusern".

Im Gegensatz zu deutschen Aufklärern wie Kant, die ihre Werke mit dem Pathos der Ernsthaftigkeit verfassten, kannte Diderot die Selbstironie und die Parodie. Er vertrat in seinen Schriften unterschiedliche Positionen, ohne dass deutlich wurde, welcher Seite er den Vorrang gab.

Diese souveräne Haltung machte Diderot zur "singulären Gestalt der französischen Aufklärung", meint etwa Karl-Heinz Stierle, Professor für Romanistik an der Universität Konstanz.
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Biografische Angaben zu Denis Diderot
Geboren wurde Denis Diderot am 5. Oktober 1713 in Langres in der Champagne. Er studierte an der Sorbonne und lebte jahrelang als Bohemien. Seine ersten Werke waren "Die philosophischen Gedanken" und der erotische Roman "Die indiskreten Kleinode".
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Erste Provokation: "Brief über die Blinden"
1749 veröffentlichte Diderot den "Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden". In diesem Werk stellte Diderot die Frage, wie es möglich sei, dass ein Blinder Gott erkennen könne. Die Antwort lautete: Bestenfalls mit dem Tastsinn.

Diese Provokation - als Gotteslästerung verstanden - hatte Konsequenzen: Diderot wurde zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Im November 1749 wurde Diderot entlassen, gerade rechtzeitig, um sein Lebenswerk, die "Encyclopedie" nicht zu gefährden.
Die "Encyclopedie" als Weltkarte der Erkenntnis
Im Juni 1751 erschien der erste Band des monumentalen Projekts - mit der Absicht, ein vollständiges Inventar der vorhandenen zeitgenössischen Kenntnisse zu erstellen.

Oberstes Prinzip war dabei die Allgemeinverständlichkeit. Die "Encyclopedie" sollte "dem Fortschritt dienen und seinen Lesern "die Binde von den Augen nehmen".
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Diderot betonte den kollektiven Charakter des Unternehmens. Er war davon überzeugt, dass das moderne Wissen von einer einzigen Person nicht mehr erfasst werden könne.

An dem Projekt arbeiteten rund 170 Gelehrte, darunter Philosophen und Wissenschafter wie Voltaire, Montesquieu, D'Alembert, D'Holbach, Condillac und Condorcet. Das Ergebnis dieser Bemühungen lag 16 Jahre später in Form von 35 Bänden und elf Tafelbänden vor.
Die Intention der "Encyclopedie"
Das Hauptanliegen der "Encyclopedie" bestand darin, die Herrschaft der Theologie und Metaphysik zu beenden. Im Mittelpunkt standen die Wissenschaften vom Menschen und der Natur - die empirisch erfahrbare Welt.

Der Mensch sollte wieder die Fähigkeit zurückgewinnen, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien und die Zusammenhänge seiner Welt selbst zu organisieren.
Reaktionen der Obrigkeit
Während der jahrzehntelangen Publikation der "Encyclopedie" kam es immer wieder zu Konflikten mit den herrschenden Mächten. Die Zensurbehörde schaltete sich ein und versuchte, einzelne Bände zu verbieten.

Diderot war jedoch geschickt genug, sich nicht provozieren zu lassen - obwohl er seine kritische Haltung gegenüber Religion und Staat beibehielt.
Die "Encyclopedie" im deutschen Sprachraum
Eine repräsentative Auswahl wichtiger Artikel der "Encyclopedie" erschien im Rahmen der von Hans Magnus Enzensberger begründeten Reihe "Die Andere Bibliothek" im Eichborn Verlag.

Dabei wurde der Prozesscharakter des Projekts weitergeführt. Die Herausgeber hatten zeitgenössische Denker und Wissenschafter gebeten, zu ausgewählten Stichwörtern neue Essays zu gestalten.
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Kompendium des menschlichen Wissens
"Zur Verwirklichung dieses Plans, der nicht nur die verschiedenen Gegenstände unserer Akademien, sondern auch alle Zweige des menschlichen Wissens umfasst, soll eine Enzyklopädie beitragen; ein Werk, das nur von Gelehrten & Künstlern geschaffen werden kann, die getrennt arbeiten & nur durch das allgemeine Interesse der Menschheit." Diderot im Artikel "Enzyklopädie".

Die Welt der Encyclopédie, ediert von Anette Selg & Rainer Wieland, Eichborn Verlag, 2001.
->   Die andere Bibliothek (Eichborn-Verlag)
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Kunstkritiken, Theaterstücke und die russische Zarin
Neben der Arbeit an der "Encyclopedie" fand Diderot noch Zeit, zahlreiche Kunstkritiken zu verfassen, Theaterstücke zu schreiben und gesellschaftliche Kontakte zu pflegen.

1773 folgte er einer Einladung der Zarin Katharina der II. Es fand ein reger Gedankenaustausch statt. Gesprochen wurde über Verwaltung, Justiz, Handel und Gewerbe. Obwohl Diderot vertrauten Umgang mit der Zarin hatte, fiel sein Urteil über ihre Herrschaft äußerst skeptisch aus.
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Literarisches: "Rameaus Neffe" und "Jacques der Fatalist"
"Rameaus Neffe", ein Werk, das Goethe überaus schätzte und sogar übersetzte, gibt das Gespräch zwischen einem Philosophen und dem Neffen des Komponisten Jean-Philipp Rameau wider. Der Neffe erweist sich als vollkommener Zyniker, der als Parasit der so genannten besseren Gesellschaft die Mechanismen und den allgemeinen Betrug eben dieser Gesellschaft durchschaut.

1788 erschien der Roman "Jacques der Fatalist" - eine Sammlung von Anekdoten und Erzählungen, die um eine planlose Reise kreisen, die der Diener Jacques und sein Herr unternehmen. In diesem Roman wird das Herr-Knecht-Verhältnis angesprochen, wie es später Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" thematisierte. Beide Romane sind im Reclam Verlag erschienen.
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Philosophisches Hauptwerk: "D'Alemberts Traum"
Das kühnste Werk Diderots, sein philosophisches Hauptwerk "D'Alemberts Traum", das er bereits 1769 verfasste, konnte wegen seiner gewagten Thesen erst 1830 veröffentlicht werden.

Diderot beschreibt darin den Menschen als Teil eines großen Ganzen, als Element einer dem Zufall und dem Chaos geweihten Materie. Der Mensch wird in dieser Schrift als Metamorphose der Materie gefasst.
"Eine frühe Form der Vergesellschaftung"
Auch in den letzten Lebensjahren zeichnete sich Diderot durch seine rastlose Produktivität aus. Er überarbeitete zahlreiche Schriften und schrieb eine Abhandlung über Seneca. 1784 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nur langsam erholte. Am 31.Juli 1784 verstarb Diderot während des Mittagessens.

"Es machte ihm kein Vergnügen, in der Isolation zu arbeiten; er suchte Leute, seinesgleichen, um gemeinsame Projekte zu organisieren. Er hat also nicht nur die Figur des Intellektuellen geschaffen, sondern auch eine frühe Form der Vergesellschaftung" (Hans Magnus Enzensberger).

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen am 16. Jänner 2003 um 19.05 in Radio Österreich 1
->   Das philosophenlexikon.de zu Denis Diderot
Mehr zu Denis Diderot in science.ORF.at:
->   "Gefährliches" Wissen: Der Krimi um ein Lexikon
 
 
 
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01.01.2010