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Ursachen für den wachsenden "Anti-Europeanism" in den USA  
  Das Schlagwort des Antiamerikanismus ist jedem ein Begriff, weniger bekannt ist der wachsende "Anti-Europeanism" in den USA - zu sehen vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzen bei Fragen der Nahost-Politik. Die Amerikaner gehen dabei wenig zimperlich mit den Europäern ins Gericht - die "Euroweenies" und "Weicheier" werden mit Verachtung gestraft. Auf die Suche nach den Ursachen für diese Tendenzen macht sich nun der britische Historiker Timothy Garton Ash.  
Im renommierten Literaturmagazin "The New York Review of Books" untersucht Timothy Garton Ash die sich ändernde Haltung der Amerikaner gegenüber Europa - "im Schatten eines möglichen zweiten Golfkrieges".
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Informationen zu Timothy Garton Ash
Timothy Garton Ash - 1955 in London geboren - hat an der University of Oxford neuere Geschichte studiert. 1978 kam der Historiker nach Berlin und verbrachte mehrere Jahre in West- sowie in Ost-Berlin. In den 1980er Jahren arbeitete er einige Zeit als Kommentator für die "Times" und die Auslandsredaktion des "Spectator". 1988 leitete der Historiker ein Forschungsprojekt am Saint Antony's College in Oxford, dort unterrichtet er noch heute. Seit 1990 schreibt er regelmäßig - unter anderem für "The New York Review of Books". Bekannt wurde Timothy Garton Ash auch als Autor zahlreicher Bücher, die sich kritisch mit der jüngeren Geschichte Europas befassen. Er lebt heute in London.
->   Weitere Informationen zu dem Historiker
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Die Europäer als "Euroweenies" und "wimps"
Die gegenwärtige Stereotype über die Europäer lasse sich einfach zusammenfassen, schreibt der Historiker in seinem Artikel: Die Europäer werden demnach als "Weicheier", als Feiglinge gesehen.

"Sie sind schwache, launische, heuchlerische, zerstrittene, manchmal antisemitische und oft antiamerikanische Abwiegler", so Garton Ashs zugespitzte Zusammenfassung der vorherrschenden US-amerikanischen Meinungen: Mit einem Wort: "Euroweenies" - was sich am ehesten mit "Euro-Weinerlinge" übersetzen lässt.
Euros fürs Vergnügen, statt für Waffen
"Ihre Werte und ihr Rückgrat haben sich in einem lauwarmen Bad aus multilateralem, transnationalem, säkularem und postmodernem Unsinn aufgelöst" - so also sehen die Amerikaner nach Garton Ash ihre europäischen Kollegen. Die Euros fließen ins Vergnügen und die Sozialsysteme, statt in die Verteidigung.
Amerikaner als charakterfeste Verteidiger der Freiheit
Die Vereinigten Staaten dagegen nehmen sich der schweren und schmutzigen Aufgabe an, die Welt für die Europäer sicher zu bewahren, fasst der Historiker weiter zusammen. Amerikaner sind demnach die starken, charakterfesten Verteidiger der Freiheit.
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"Anti-Europeanism" kontra Antiamerikanismus
Im Vergleich zeigen sich deutliche Unterschiede bei "Anti-Europeanism" und Antiamerikanismus. Nicht nur unterscheiden sich die emotionalen Leitmotive, wie Garton Ash feststellt: Beim Antiamerikanismus vermische sich Ressentiment mit Neid, "Anti-Europeanism" dagegen vereine Irritation mit Verachtung.

Zudem ist Antiamerikanismus weiter verbreitet. Er sei "eine wirkliche Obsession ganzer Länder", schreibt Garton Ash - um dann festzustellen, dass die vorherrschende Haltung der Amerikaner gegenüber den Europäern schlicht Gleichgültigkeit ist.

Und auch auf der politischen Skala sind die beiden Haltungen bei recht gegensätzlichen Positionen angesiedelt - der europäische Antiamerikanismus steht nach Garton Ash hauptsächlich links, der amerikanische "Anti-Europeanism" rechts.
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Gründe für den "Anti-Europeanism"
Die Gründe für die zunehmende Feindseligkeit vieler Amerikaner gegenüber "den Europäern" sind komplex - als Historiker versucht Garton Ash vor allem, Tendenzen innerhalb der - jüngeren und jüngsten - Geschichte aufzuspüren.

So sieht er etwa eine lange existierende Tendenz zum "Anti-Europeanism" in den Vereinigten Staaten gegeben: "Für Millionen von Amerikanern im 19. und 20. Jahrhundert war Europa der Ort, von dem man flüchtete."
Die Zukunft als "clash of civilizations"?
Doch es kommt auch die Zeit der gemeinsamen Allianzen, zunächst gegen die Nazis, dann gegen den sowjetischen Kommunismus. Nach Garton Ash die "Blütezeit des geopolitischen 'Westen'", der so nicht länger existiere.

Auch die Suche der Europäer nach einer gemeinsamen Identität im Rahmen der Europäischen Union ist ein Punkt auf der Liste des Historikers. Identitätssuche durch Abgrenzung von "den Anderen" - in diesem Fall die USA.

Beide Seiten halten heute ihr jeweiliges Modell für das bessere, und Garton Ash nennt einen amerikanischen Politikwissenschaftler, der bereits den vielzitierten "clash of civilizations" zwischen Europa und den USA kommen sieht.
George W. Bush als "Auslöser"
All diese von dem britischen Historiker diskutierten Trends seien, so der Text weiter, für einige Jahre nach Ende des Kalten Krieges verborgen geblieben - erst mit dem Amtsantritt von George W. Bush habe sich dies geändert.

Natürlich muss hier vor allem über die Nachwirkungen des 11. September 2001 gesprochen werden. Denn zunächst standen Europas Staaten danach vereint hinter den USA, heute stellt sich die Situation deutlich anders dar:

Wann und wo also haben sich die Stimmungen, die Gefühle getrennt, fragt der Historiker Ash und wirft einen Blick auf die Zeitgeschichte und gen Osten.
Der Nahe Osten als Abwärts-Spirale
Der Nahe Osten sei beides, Quelle und Katalysator, für das, was drohe, eine Abwärts-Spirale zu werden - für europäischen Antiamerikanismus und amerikanischen "Anti-Europeanism", wobei sich beides jeweils gegenseitig verstärkt.

Der Kalte Krieg gegen den Kommunismus in Mitteleuropa hat Amerika und Europa zusammengebracht, fasst Garton Ash es zusammen, der "Krieg gegen den Terrorismus" im Nahen Osten lässt beide wieder auseinander brechen.
Ausblick auf die Zukunft
Sein Ausblick auf die Zukunft scheint wenig hoffnungsvoll: Im Augenblick, so schreibt er, scheint es, als ob ein zweiter Golfkrieg die Kluft zwischen Europa und Amerika nur noch verbreitern wird - selbst wenn es keinen Krieg im Irak gebe.

Ein Wechsel könnte zwar kommen, meint der Historiker - etwa bei einem Machtwechsel in den USA 2005 oder 2009 -, in der Zwischenzeit jedoch könnte eine Menge Schaden angerichtet werden.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
Der Artikel in der "New York Review of Books" im Volltext:
->   Timothy Garton Ash: Anti-Europeanism in America
->   Aktuell in ORF.at: Judith Butler - Das Unbehagen über George W. Bush
->   Sämtliche Beiträge von Timothy Garton Ash für "The New York Review of Books"
 
 
 
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01.01.2010