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Das Maß der Vernunft
Michael Gnant, Univ.-Klinik für Chirurgie-AKH Wien
 
  Klinische Studien sind heute die einzige anerkannte Methode des Wissensgewinns in der klinischen Medizin. Der Normierungsgrad des Systems ist hoch, nationale (Arzneimittelgesetz) und internationale Normen (Good Clinical Practice) definieren exakt die Bedingungen, unter denen neue medizinische Methoden und oder Medikamente geprüft und in die tägliche Praxis umgesetzt werden (dürfen).  
Datenschutz ist eines der wesentlichsten Anliegen dieser Normierungssysteme. So ist Informed Consent ein umfassendes Prinzip, das heißt, alle PatientInnen/ProbandInnen müssen auf Basis einer umfassenden Information der Teilnahme an einer klinischen Studie zustimmen.
Abfolge von Aufklärung und Zustimmung
Trotzdem liegen die Schwierigkeiten im Detail: Wie ist die exakte Abfolge von Aufklärung und Zustimmung? Internationale Untersuchungen zeigen, dass in der Praxis sehr häufig der sogenannte Postrandomization-Consent eingesetzt wird, das bedeutet, dass die PatientInnen weniger genau über das Wesen der Randomisierung sondern mehr über das Ergebnis dieses Vorganges aufgeklärt werden.

Dies ist streng formal nicht zulässig. Auf der anderen Seite hat das Arzt/in-PatientIn-Verhältnis auch berücksichtigt zu werden in der Beurteilung: Wer will schon, dass ein anonymer Computer über die Therapie entscheidet?
Klinische Studien nützen den Patienten
In einer großen Untersuchung an fast 8000 Brustkrebspatientinnen aus Österreich konnte gezeigt werden, dass alleine die Teilnahme an einem klinischen Studienprotokoll die Gesamtprognose verbessert, unabhängig von der konkreten Behandlung. Die im Rahmen klinischer Protokolle vorhandenen Qualitätskontrollmechanismen scheinen sich also zum direkten Nutzen der StudienpatientInnen auszuwirken. Darf man diese Information in einem Aufklärungsgespräch verwenden, um jemanden zur Teilnahme zu motivieren?
Das Problem der Anonymisierung
Ähnliche Spannungsfelder bestehen in einer Reihe von Detailfragen im Zusammenhang mit klinischer Forschung: So selbstverständlich die exakte Anonymisierung von PatientInnendaten ist, so sehr wirft diese auch Probleme auf. Gerade im Zusammenhang mit Gendiagnostik oder der Verwendung genetischer Untersuchungen z.B. zur Beurteilung der Wirksamkeitschance eines Medikamentes ist häufig zum Zeitpunkt der Aufklärung noch nicht bekannt, welche Möglichkeiten der Anwendung in der Zukunft möglich sein werden.
Das Recht auf "Nichtwissen"
Ist es ethisch, unter exakter Beachtung des strengen Datenschutzes jede auch theoretische Nachverfolgung der Daten zu verunmöglichen, und damit den Kranken die Chance zu nehmen, vielleicht durch die spätere Anwendung der Information länger zu leben oder sogar gesund zu werden? Darf z.B. ein Familienmitglied einer genbelasteten Familie durch das Respektieren seines/ihres "Rechtes auf Nichtwissen" die Rechte und im Extremfall sogar Lebenschance der Kinder/Enkel mitbestimmen?

In einer Wertabschätzung zwischen dem individuellen PatientInnenwohl und der Erfüllung bürokratischer Normen werden im Konfliktfall gerade wir ÄrztInnen immer die PatientInnen im Vordergrund sehen. Wie schützen wir uns und die Gesellschaft aber vor dem Missbrauch des sogenannten therapeutischen Privilegs?
Wo sind die Grenzen des "gläsernen Menschen"?
Wer hat Angst vor dem gläsernen Menschen? Ich denke, hier ist auch einmal Optimismus gefragt. Nicht jeder mögliche Missbrauch darf rechtfertigen, dass wir uns dem Nutzen moderner Technologien verschließen. Wäre es nicht wünschenswert, wenn wir mit einem kreditkartengroßen Chip in Notfallsituationen relevante medizinische PatientInnendaten abfragen können?

Wie viele Menschen kommen zu Schaden, nur weil in der Akutsituation keine Informationen über Blutgruppe, Medikamenteneinnahme, Unverträglichkeit, etc. verfügbar sind? Ich denke, dass völlig klar ist, dass genetische Diskriminierung durch Arbeitgeber, Versicherungen oder soziales Umfeld geächtet werden und legistisch eindeutig geregelt werden müssen. Dies kann aber nicht rechtfertigen, sich den Möglichkeiten einer zukünftigen molekularen Medizin in mystischer Sorge zu verschließen.
Das Individuum und die Gemeinschaft
Ich denke, gerade in der sogenannten westlichen Welt sollen wir uns diskussionsweise auch den Gedanken erlauben, ob wir nicht durch eine Überbetonung des letztlich katholisch geprägten Prinzips des Personalismus dem Individuum manchmal zuviel Rechte einräumen im Vergleich zur Gemeinschaft (Solidarität).

Ich bin mir der Gefahren einer Abschwächung von Individualprinzipien bewusst, aber wir könnten mutiger und offensiver an der Entwicklung möglichst perfekter Kontrollsysteme arbeiten, die Missbrauch verhindern, anstelle in einer ängstlichen Verhinderungsdiskussion zu verweilen.
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Michael Gnant ist an der Univ.-Klinik für Chirurgie, klinische Abteilung für Allgemeinchirurgie am AKH Wien tätig.
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01.01.2010