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Urbane Mythen: Je ekliger, desto besser  
  Urbane Legenden und moderne Mythen erfreuen sich im Zeitalter der Internet-Kommunikation großer Beliebtheit. Amerikanische Wissenschaftler haben nun untersucht, welche Inhalte die Verbreitung solcher Geschichten besonders fördern. Das Ergebnis: "Bad emotions are good emotions" - je ekliger, desto besser. Die modernen Mythen werden nicht nur nach ihrer Plausibilität, sondern auch nach ihrem emotionalen Gehalt ausgewählt.  
Dabei sprechen die amerikanischen Wissenschaftler von einer emotionalen Form der "Selektion" - eine Begrifflichkeit, die dem Reich der Biologie entlehnt scheint.

Genau das ist auch der Fall: Die Forscher bemühen im Rahmen ihrer Arbeit das umstrittene Mem-Konzept des britischen Biologen Richard Dawkins, demzufolge die Entwicklung der Kultur mit einer Sprache beschrieben werden kann, die dem evolutionsbiologischen Vokabular nachempfunden ist.
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"Emotional Selection in Memes"
Die Studie "Emotional Selection in Memes: The Case of Urban Legends" von Chip Heath, Chris Bell and Emily Sternberg erschien in der Zeitschrift "Journal of Personality and Social Psychology".
->   Zum Original-Artikel
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Mutation und Selektion für die Kultur?
In Kapitel elf seines 1979 erschienen Buches "The Selfish Gene" formulierte der britische Biologe Dawkins die provokante These, dass nicht nur der Bio-Evolution, sondern auch der Kulturgeschichte das Prinzip von Mutation und Selektion zu Grunde liege.

Welche Objekte damit im biologischen Bereich angesprochen sein sollen, ist klar: Gene, oder höhere genetischen Einheiten, die sich reproduzieren, in Konkurrenz treten - und damit die Evolution der Organismen vorantreiben.
Meme, die kulturellen "Gene"
Doch wie sollten die Darwinschen Prinzipien auf die Kultur übertragen werden? Dawkins Vorschlag: Auch in der Kultur gibt es so etwas wie eine Vererbung - Ideen, Moden und geistige Konzepte replizieren und verbreiten sich gleichsam in den Gehirnen ihrer "Wirte", den Menschen.

Durch die permanente Abänderung von ("Mutation") und wechselnde Präferenz für ("Selektion") intellektuelle Konzepte seien auch hier die elementaren Zutaten für eine echte Evolution gegeben: Dawkins sprach in diesem Zusammenhang von "Memen" (was nicht zufällig wie eine Mischung zwischen dem griechischen Wort "mimesis" und dem Begriff "Gen" klingt).
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Beispiele für Meme: Melodien, Gedanken, Moden
Als konkrete Beispiele für Meme nannte Dawkins in seinem Buch Melodien, Gedanken, Schlagworte und Kleidermoden, beließ es aber bei dieser - zunächst nicht besonders ernst gemeinten - Andeutung.

In neuerer Zeit hat die britische Psychologin Susan Blackmore das Mem-Konzept wieder aufgegriffen und in dem Buch "Die Macht der Meme" weiterentwickelt. Spätestens seit dieser Veröffentlichung spricht man von einem eigenständigen Forschungsbereich "Memetics", mittlerweile existiert auch ein Fachjournal gleichen Namens.
->   Mehr zur Memetik (UK Memes Central)
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Verbreitungsmuster modernen Mythen untersucht
Chip Heat von der Stanford University und seine Mitarbeiter Chris Bell und Emily Sternberg haben dieses Konzept nun benutzt, um die Verbreitungsmuster von so genannten urbanen Legenden genauer zu charakterisieren.

Dabei untersuchten sie im Internet kursierende Geschichten und Mythen, die in einschlägigen Datenbanken zugänglich sind.
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Urbane Legenden - Definition und Beispiele
Urbane Mythen, im Englischen auch als "foaf-tales" (von "friend of a friend") oder "contemporary legends" bekannt, sind der deutschsprachigen Leserschaft vor allem durch das Buch "Die Spinne in der Yucca- Palme" des Volkskundlers Rolf Wilhelm Brednich geläufig. Die Website urbanlegends.com gibt für urbane Legenden folgende charakteristische Eigenschaften an: Mysteriöses Erschienen und spontane Verbreitung einer unterhaltsamen Geschichte mit Horror- bzw. Humor-Elementen, die nicht zwangsläufig falsch sein muss (es aber meistens ist).

Bekannte Beispiele dafür sind etwa Geschichten über abstoßende Details bei der Nahrungsaufnahme, bizarre Gewohnheiten von Prominenten oder Kettenbriefe (z.B. "Bill Gates has $1,000 (and a virus) just for you!").
->   Eine Liste der wichtigsten Websites zum Thema
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Bisherige Ansicht: Informations-Selektion
Bisher war man der Überzeugung, dass moderne Mythen in ihrer Rolle als Meme dann besonders "erfolgreich", d.h. weit verbreitet sind, wenn sie eine wahre bzw. praktisch brauchbare Informationen oder zumindest eine moralische Botschaft übermitteln.

Chip Heat und seine Kollegen gingen hingegen davon aus, dass es neben dieser "Informations-Selektion" noch eine weitere Dimension der Auswahl gibt: die so genannte "emotionale Selektion".
Emotionale Selektion am Beispiel "Ekel" überprüft
Um diese Hypothese zu überprüfen, untersuchten sie Geschichten, die ekelerregende Motive enthielten. Das Ergebnis: Je abstoßender eine Erzählung war, desto eher wurde sie von Lesern weitergeleitet - und desto höher war ihr Verbreitungsgrad im Internet.

Das bedeutet zwar nicht, dass ekelerregende Inhalte per se favorisiert werden, wohl aber solche, die bei möglichst vielen Menschen gleichartige (positive oder negative) Emotionen hervorrufen können.

Die Autoren interpretieren das Ergebnis dahingehend, dass sich Meme ebenso an ihre psychologische Umwelt anpassen müssten, wie etwa Organismen an ihre ökologischen Lebensbedingungen.
Memetik als methodische Brille
Der memetische Erklärungsansatz ist der evolutionsbiologischen Denkweise nachempfunden - und stößt vermutlich daher in einigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf wenig Gegenliebe.

So lange man in Erinnerung behält, dass die Memetik die kulturelle Welt durch eine methodische Brille betrachtet, ist dieses Crossover nicht unoriginell. Problematisch wird es freilich dann, wenn man die Brille mit der Welt selbst verwechselt.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Stanford University
->   Mehr zu modernen Mythen in www.sagen.at (Uni Innsbruck)
Mehr zu diesem Themenbereich in science.ORF.at
->   Jörg Flecker: Mythen der Informationsgesellschaft (Teil I)
->   Jörg Flecker: Mythen der Informationsgesellschaft (Teil 2)
->   Mythos Menschenfresser?
 
 
 
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01.01.2010