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Eine Billion Jahre: Chemische Reaktion ohne Enzyme  
  Fast alle biologischen Vorgänge in menschlichen Zellen sind von ihnen abhängig: Enzyme, kleine molekulare Helfer, mit deren Hilfe chemische Reaktionen in Millisekunden ablaufen. Ein amerikanischer Forscher ging nun der Frage nach, wie lange eine wichtige biochemische Umsetzung bräuchte, wenn ihr nicht enzymatisch unter die Arme gegriffen würde. Das Ergebnis zeigt, welche elementare Rolle die Enzyme für die Existenz des Lebens spielen: Die hypothetische Reaktion würde eine Billion Jahre dauern - das entspricht etwa dem siebzigfachen Alter des Universums.  
Die betroffene Reaktion spielt eine wichtige Rolle bei der Zellkommunikation. Wie Richard Wolfenden von der University of North Carolina in Chapel Hill berichtet, weist das beteiligte Enzym "Phosphatase" damit die höchste Affinität (das engste Zusammenspiel mit seinem Substrat) auf, die in der Welt der Biochemie bekannt ist.
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"Exceptional catalytic proficiencies of phosphatases"
Die Arbeit "The rate of hydrolysis of phosphomonoester dianions and the exceptional catalytic proficiencies of protein and inositol phosphatases" von Chetan Lad, Nicholas H. Williams und Richard Wolfenden wurde online auf der Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences" veröffentlicht (DOI: pnas.0631607100) und wird am13. Mai in der Printausgabe des Fachmagazins erscheinen.
->   Zum Original-Abstract
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Lebewesen als Inseln der Ordnung
Wie schaffen es Lebwesen, sich dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem Trend zur Unordnung, zu entziehen?

Bereits im Jahr 1944 wunderte sich der österreichische Physiker Erwin Schrödinger in seiner kleinen Schrift "What is Life?" über die "erstaunliche Gabe eines Organismus, einen 'Strom von Ordnung' auf sich zu ziehen und damit dem Zerfall in atomares Chaos auszuweichen."

Die physikalische Antwort darauf lautet: Lebewesen brechen den Entropiesatz nicht, sie umgehen ihn gewissermaßen. Denn Organismen sind offene, d.h. von Materie und Energie durchflossene Systeme, die innere Ordnung aufbauen, während sie nach außen hin die globale Unordnung erhöhen.
->   Mehr dazu: An den Grenzen der Thermodynamik
Enzyme machen die Chemie nutzbar
Soweit die Theorie. Doch was konkret befähigt Lebewesen zu so einer Sonderleistung? Eine wichtige Antwort darauf kommt aus der Chemie:

Mittels kleiner chemischer Helfer, so genannter Enzyme, machen sich die Lebewesen all jene chemischen Reaktionen zu Nutze, die ihnen Energie liefern oder auf andere Weise überlebensdienlich sind. Das Problem dabei: Viele Reaktionen laufen nur unter extremen Bedingungen spontan ab.
Spontan läuft (fast) gar nichts
Ein eindrückliches Beispiel liefert etwa das Haber-Bosch-Verfahren, bei dem Luftstickstoff (N2) großtechnisch zu Ammoniak (NH3) umgewandelt wird. Die technische Umsetzung benötigt dafür 250 Grad Celsius und einen Überdruck von 300 Atmosphären.

Stickstoffbindende Bakterien schaffen das selbe locker bei 20 Grad und einer Atmosphäre. Der Trick: Das Enzym "Nitrogenase" senkt die so genannte Aktivierungsenergie der Reaktion - was sich auf das Reaktionstempo wie ein echter Turbo auswirkt.
Wie lange dauert die Reaktion, wenn Enzyme fehlen?
Genau so einen Vergleich zwischen spontaner und katalysierter Reaktion hat nun Richard Wolfenden mit zwei englischen Fachkollegen vorgenommen. Die Forscher stellten die Frage, wie lange eine spezielle chemische Spaltung dauert, wenn sie ohne das Enzym "Phosphatase" auskommen muss.
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Phosphatasen
Phosphatasen sind Enzyme, die so genannte Phosphorsäuremonoester-Gruppen von größeren Molekülen abspalten. Sie kommen u.a. in der Leber, in roten Blutkörperchen oder in der Dünndarmschleimhaut vor und erfüllen ein Vielzahl biologischer Funktionen. Das sind z.B. die Regulierung der Kommunikation zwischen bzw. der Signalwege innerhalb von Zellen.
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Die Natur liegt auf der faulen Haut: Eine Billion Jahre
Während Phosphatasen ihre Aufgabe innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde erledigen, agiert die Natur ohne enzymatische Hilfe recht gemächlich. Bereits im Jahr 1998 hatte Wolfenden eine Studie veröffentlicht, in der er die Halbwertszeit einer spontanen biochemischen Reaktion mit 78 Millionen Jahren bezifferte.

Gegen den Zahlenwert der aktuellen Untersuchung ist das noch vergleichsweise rasch, denn die Halbwertszeit der Phosphatase-Reaktion liegt etwa 10.000 mal höher: Sie beträgt unglaubliche 1,1 Billionen Jahre. Zum Vergleich: Das Alter des Universums beträgt mit 13,7 Milliarden Jahren etwa ein Siebzigstel dessen.
->   Mehr dazu: Verblüffende neue Aufnahmen des jungen Universums
Weltrekord: Höchste Affinität
Wie sich von selbst versteht, gelangte das Forscherteam zu seinen Ergebnissen nicht direkt, sondern durch eine besondere Extrapolationsmethode. Bemerkenswert ist vor allem die unheimliche Diskrepanz zwischen der spontanen und der katalysierten Reaktion:

"Die Enzymreaktion ist 21 Größenordnungen schneller als ihr unkatalysiertes Gegenstück", betont Wolfenden: "Der größte bisher bekannte Wert betrug 18. Wir haben damit Maßstäbe erreicht, die jede Vorstellungskraft übersteigen."
Enzyme als kleine "Dämonen"
Dies bedeutet, dass die chemische Affinität der untersuchten Phosphatasen jene aller bisher bekannten Enzyme um ein Vielfaches übersteigt.

Angesichts dessen kann einem ein Ausspruch des Biochemikers Jacques Monod in den Sinn kommen, in dem er Enzymen schon vor 30 Jahren eine "dämonische" Funktion zubilligte.

Allerdings nicht in metaphysischem Sinn, sondern in Anlehnung an einen Lehrsatz von Leon Brillouin: Demzufolge sind Information und negative Entropie äquivalent.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Mehr zu Negentropie und Information (Pricipia Cybernetica Web)
->   University of North Carolina
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01.01.2010