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Nonkonformist: 200. Geburtstag von Ralph Waldo Emerson  
  "Die Wahrheit findet das Individuum in sich selbst, nicht in den Autoritäten der Außenwelt" - diese Überzeugung ist zentral für das Denken von Ralph Waldo Emerson. Der Philosoph und Schriftsteller vertraute auf die Selbstregulierung des Individuums, das sich von gesellschaftlichen und politischen Zwängen befreit. Sein Aufruf zum Nonkonformismus - "Man must be nonconformist" - übte großen Einfluss auf die amerikanische Kultur aus. Am 25. Mai jährt sich der Geburtstag von Emerson zum 200. Mal.  
Das Leben als Experiment
Emerson sah das menschliche Leben - ähnlich wie Friedrich Nietzsche - als eine Abfolge von Experimenten. Das Individuum sollte nicht gesellschaftliche oder ideologische Muster auf sich übertragen, sondern sich stets neu entwerfen. Emerson betonte die Bedeutung der geistigen Unabhängigkeit: "Für uns besteht der ganze Zweck des Universums darin, den Charakter zu stärken."
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Zitat Emerson: "Wir bereiten uns immer auf das Leben vor, leben aber niemals. Wir wenden viele Jahre auf unsere Fachausbildung und dann viele Jahre auf den Erwerb unseres Lebensunterhalts - doch mit dem Werk der Selbstvervollkommnung geben wir uns nur ganz selten ab; ein paar Stunden vielleicht."
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Dreieck Natur - Mensch - Gott
Emerson ist jedoch kein Existenzialist, der das Individuum als unabhängige Größe fasst. Der Mensch ist für ihn eine Vermittlungsinstanz zwischen Gott und Natur. Das seelische Bewusstsein verbindet den Menschen mit dem göttlichen Geist, während die unbewusste Materie der Natur das Rohmaterial zu seiner Bewusstwerdung liefert. Auf diese Weise steht der Mensch zwischen dem reinen Geist Gottes und der Materie der Natur.
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Zitat Emerson: "Ich glaube, der Irrtum der Religionslehrer liegt darin, dass sie sich an kleinliche, positive, wörtliche, formelhafte Auffassungen des sittlichen Gesetzes klammern, während die unendlichen Gesetze, die großen, kreisenden Wahrheiten unbeachtet bleiben."
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Klub der Transzendentalisten
1836 wurde in Cambridge, Massachusetts der " Klub der Transzendentalisten" gegründet. Es war dies ein Kreis von kritischen Dichtern, Philosophen, Lehrern und Pastoren, die den herrschenden materialistischen Zeitgeist radikal in Frage stellten. Emerson wurde bald das geistige Oberhaupt dieses Diskussionszirkels, der sich auf die Philosophie des deutschen Idealismus und der englischen Romantik bezog.
Was ist Transzendentalismus?
Die Gemeinsamkeit des Transzendentalismus bestand in der Überzeugung, dass die Erscheinungswelt der Dinge nicht mit deren Wirklichkeit gleichzusetzen sei. Im Sinne von Immanuel Kant existiere eine Wirklichkeit, die sich nicht empirisch erklären lässt.

Diese Wirklichkeit deutete Emerson als "Oversoul", als "Weltseele", die er mit Gott gleichsetzt. Aufgabe des Menschen ist es, Teil der Weltseele zu werden.
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Zitat Emerson: "Zum ersten Male wird eine Nation von Menschen existieren, weil jeder einzelne sich von der göttlichen Seele inspiriert fühlt, die alle Menschen inspiriert."
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Anderer Zugang zur Natur
Um Teil der Weltseele zu werden, ist es notwendig, einen anderen Zugang zur Natur zu finden. Natur, wie sie im zeitgenössischen Kontext verstanden wurde, diente nur dem Menschen zur Ausbeutung.

Tier-und Pflanzenwelt waren Mittel, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dagegen plädierte Emerson in seinem 1836 erschienen Buch "Nature" für einen einfühlsamen Umgang mit der Natur.
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Zitat Emerson: "Keine Kunst vermag die reife Schönheit eines Stückchens Waldboden zu übertreffen. Das Lärmen der Heuschrecken, das Summen der Bienen, die schaukelnden Luftspinnen, die hin- und herflatternden Teufelsnadeln, die zirpenden Grashüpfer, die Farben- und Formen der Blätter und Bäume, die Myriaden von Astern, Kreuzblumen und Goldraute - darüber der ewige Himmel."
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Gesellschaftliche Auswirkungen
Die Annahme einer universalen Seele veranlasste Emerson, auch über gesellschaftspolitische Probleme nachzudenken. Er verabscheute jegliche Form autoritärer Herrschaft und setzte sich für die Rechte von Unterdrückten und Ausgegrenzten ein.

Aktiv unterstützte er die Bewegung zur Sklavenbefreiung und versteckte Sklaven, die sich auf der Flucht befanden, in seinem Haus in Concord.
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Biografie
Ralph Waldo Emerson wurde am 25. Mai 1803 in Boston geboren. Nach einem Theologiestudium an der Harvard Universität wirkte er mehrere Jahre als Pfarrer. 1832 gab er das Priesteramt auf, weil es für überflüssig hielt. Für ihn war die Institution Kirche bedeutungslos geworden; nur die individuell erlebte Religion zählte.

Emerson unternahm mehrere Reisen nach Europa, vor allem nach England, wo er romantische Schriftsteller wie Samuel Taylor Coleridge oder William Wordsworth kennen lernte. Nach seiner Rückkehr ließ sich Emerson in Concord, Massachusetts nieder. Er widmete sich dem Studium philosophischer Schriften und bestritt seinen Lebensunterhalt bis zu seinem Tod 1882 durch eine rege Vortragstätigkeit.
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Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
Noch weiter ging sein zeitweiliger Sekretär Henry David Thoreau, der von 1817 bis 1862 lebte. In dem Buch "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" rief Thoreau zum passiven Widerstand gegen ungerechte Regierungen auf.

Er selbst wurde inhaftiert, weil er sich weigerte, Steuern zu bezahlen. Seine Schrift wurde zum Kultbuch und beeinflusste Mahatma Gandhi und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung.
Wahre Tugenden des Amerikaners
Emerson wandte sich gegen den "seichten" Materialismus seiner Landsleute, die nur den ökonomischen Erfolg anstrebten. Dagegen setzt Emerson die innere Zufriedenheit und das erfüllte Leben des Einzelnen.

Die Verwirklichung eines selbst gewählten Lebensentwurfs, der sich nicht an gesellschaftlichen Maßstäben orientiert, erfordert allerdings Mut und Selbstvertrauen; sie sind Voraussetzungen für den idealen Amerikaner.
Richard Rorty: Stolz auf unser Land
Auf die Tugenden des Mutes und des Selbstvertrauens setzt auch der amerikanische Philosoph Richard Rorty, einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Nach einer postmodernen Phase, in der er Jacques Derrida und Michel Foucault rezipierte, liest er nunmehr Emerson.

Bei ihm findet sich der Entwurf eines Amerikanismus, der nicht von militärischen Chauvinismus geprägt ist. Es ist dies der Hinweis, aktiv an seinem eigenen Lebenskunstwerk zu arbeiten - auch gegen den Widerstand der Gesellschaft.

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
->   Überblick über Emerson-Websites (Google)
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Werke von Emerson:
"Von der Schönheit des Guten. Betrachtungen und Beobachtungen". Diogenes Verlag
"Die Natur" und "Essays". Beide Bände erscheinen im Juni im Diogenes Verlag
Weitere Literatur:
Richard Rorty: Stolz auf unser Land. Suhrkamp Verlag
Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". CD in der Edition Parlando, Berlin
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01.01.2010