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Demenz: Sprachverlust, aber Kreativitätsgewinn  
  Menschen, die an Demenz leiden, verlieren stückweise ihre Erinnerung und Teile ihrer sprachlichen Fähigkeiten. Wie die Studie einer erkrankten Künstlerin bestätigt, können diese Verluste aber mit einem Plus anderer Ausdrucksmöglichkeiten einher gehen: Sprachmuster des Gehirns, so scheint es, sind für manche Arten von Kreativität nicht nur nicht notwendig, sondern gar hinderlich.  
Über den außergewöhnlichen Fall einer Künstlerin, die unter einer seltenen Form von Demenz leidet, berichtet Bruce L. Miller, Neurologe und Leiter des "Memory and Aging Center" an der Universität von Kalifornien in San Francisco, im Fachjournal "Neurology".

Der Fall werfe ein neues Licht auf das "Wesen der Kreativität", so Miller.
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Die Studie von J. Chang Mell, S.M. Howard und B.L. Miller ist unter dem Titel "Art and the brain: The influence of frontotemporal dementia on an accomplished artist" in der aktuellen Ausgabe von "Neurology" (Bd. 60, S. 1707, Ausgabe vom 27. Mai 2003) erschienen.
->   Neurology
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Malerin seit ihrer Jugend
Bei der Frau handelt es sich um eine chinesischstämmige Kunstprofessorin einer High School, die seit ihrer Jugend gemalt hat. Bei ihrer Abschlussarbeit zur Erlangung des Diploms präsentierte sie Werke, die die gegenständliche Zeichenkunst des Westens mit der Pinselmalerei Chinas verbanden.

Ab 1986 hatte sie Schwierigkeiten zu unterrichten: Notenvergabe, Lehrstundenplan und vieles mehr wurde immer komplizierter - schließlich begann sie die Namen ihrer Schüler zu vergessen. 1995 musste sie im Alter von 52 Jahren in den Ruhestand treten.
Diagnose: Frontallappendemenz
Die Diagnose lautete Frontallappendemenz, eine relativ seltene Art von Demenzkrankheit, bei der vor allem die Gehirnzellen in den Stirnhirn- und Schläfenlappen beeinträchtigt sind. Laut Miller war bei der Patientin vor allem die linke Gehirnhälfte betroffen.

Der Stirnhirnlappen spielt vor allem für die Sprache, Organisation und Regulation des Sozialverhaltens eine entscheidende Rolle.
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Frontallappendemenz
Die Frontallappendemenz (frontotemporale Demenz) zählt zu den neurodegenerativen Hirnerkrankungen des Pick-Komplexes, die der Neurologe Arnold Pick (1851-1924) um die Jahrhundertwende erstmals beschrieben hat. Häufigste Form dieser Nicht-Alzheimer-Demenzen ist die Demenz vom frontalen Typ: sie zeichnet sich durch einen schleichenden Beginn mit langsamer Progression, Verhaltensauffälligkeiten, stereotypes Benehmen, Enthemmung, Sprachverödung und schließlich durch kognitive Defizite aus. Bei der Hirnuntersuchung finden sich in den frontalen und temporalen Rindenabschnitten des Gehirns die an sich unspezifischen Zeichen wie Neuronenverlust, Vermehrung faserbildender Gliazellen und eine bandförmig angeordnete Spongiose der äußeren Schichten. Pick-Kugeln, die kennzeichnend für die Pick-Krankheit sind, fehlen ebenso wie Neurofibrillenveränderungen.
->   Mehr über Pick-Komplex und Frontallappendemenz (Dt. Ges. für Neurologie)
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Malstil änderte sich im Fortschreiten der Krankheit
Vor Ausbruch der Krankheit malte die Künstlerin vor allem Landschaften und Gegenstände, entweder in einer "westlichen" Perspektive oder in einer "östlichen", so die Universität von Kalifornien in einer Aussendung. Je weiter der Krankheitsverlauf fortschritt, desto mehr hat sich ihr Malstil vermischt.

"Je mehr ihre sprachlichen Fähigkeiten verloren gingen, desto wilder und befreiter wurde ihre Malerei", so Miller. Es sei klar zu beobachten gewesen, dass sie sich langsam von den formalen Einschränkungen ihrer Ausbildungen befreite. Ihr "Spätwerk" könne nicht mehr "realistisch" bezeichnet werden, sondern verfüge über einen sehr starken emotionalen und impressionistischen Stil.
Heute spricht sie (nur) noch über die Malerei
Seit 2001 hat sie keine weiteren Werke mehr produziert. Sie kann sich aber an die Bilder und die von ihr benutzte Technik noch immer erinnern - obwohl ihre sprachlichen Fähigkeiten mittlerweile sehr eingeschränkt sind. Wenn sie heute über ihre Malerei spricht, "ist ihre Sprache viel freier und spontaner als bei anderen Gesprächsthemen", so Miller.

Schon zuvor hatte der Neurologe von anderen Patienten mit Frontallappendemenz berichtet, die - ohne künstlerischer Vorgeschichte - Interesse an und Talent für Kunst fanden, je weiter ihre Krankheit fortgeschritten war.
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Kreative Pick-Kranke
Die Pick-Krankheit tritt unter 100.000 Menschen einmal auf und wird häufiger bei Frauen als bei Männern festgestellt. Sie bricht in der Regel im Alter zwischen 40 und 60 Jahren aus. Veränderungen in der Persönlichkeit gehören zu den ersten Anzeichen der Erkrankung. Bei einem kleinen Teil der Patienten entwickeln sich zuvor nicht sichtbare kreative Talente.

Diese Patienten werden dabei asozial, introvertiert und neigen dazu, fanatisch an ihrer Kunst zu arbeiten. Dieses Auftauchen eines Talents hängt davon ab, welche verschiedenen Teilmengen der Gehirnzellen der Patienten beeinflusst bzw. verschont werden. In den meisten der Menschen mit bildenden künstlerischen Talenten war jedoch nur die Vorderseite des Temporallappens betroffen, und der Zellverlust war auf der linken Seite des Gehirns größer. Nicht betroffen war der hintere Teil der Temporallappen, der die visuelle Welt, Form, Farbe und Bewegung interpretiert.
->   Mehr über die Frontallapendemenz (Universität von Kalifornien)
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"Eigenschaft großer Künstler"
Nach Ansicht von Miller ist die "Fähigkeit, sich über die normalen sozialen, physischen und kognitiven Einschränkungen hinwegzusetzen, eine Eigenschaft großer Künstler". Die Auflösung von Mustern des Denkens, die mit Sprache und Sozialem verknüpft sind, könnte ein Schlüsselelement für die Produktion von oder die Ambition nach Kunst der Demenz-Patienten sein.
Neue Herangehensweise an Demenz-Patienten?
Eine Einsicht, die auch zu einer anderen Herangehensweise an Demenz-Patienten führen könnte. Denn üblicherweise werden sie als Menschen betrachtet, bei denen gewisse Dinge immer schlechter funktionieren.

Nun, so schließt der Neurologe, könnte sich das Interesse auch auf die Frage richten, ob es etwas gibt, dass die Patienten besonders gut - oder gar besser können - als vor dem Krankheitsausbruch.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Memory and Aging Center, University of California
->   American Academy of Neurology
 
 
 
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01.01.2010