News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Aktuelle Herausforderungen von Bildung und Erziehung  
  Die Pädagogik ist auf Grund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen in ihren Grundkategorien gefordert, wie ein internationales Symposion in Maria Plain bei Salzburg in der vergangenen Woche einmal mehr gezeigt hat. Dabei ist die These von der Umkehrung der Generationsverhältnisse wegen des technologischen Kompetenzvorsprungs von Jugendlichen nur ein Beispiel für die neuen Herausforderungen an die Disziplin.  
Die rechtliche Dimension des Erziehungsbegriffs wiederum - Thema eines weiteren Vortrages - veranschaulicht deutlich, dass die Begriffe und Ziele der Pädagogik immer auch in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Realitäten zu denken sind.
...
38. Pädagogik-Symposion in Maria Plain
Das besondere Moment des Anfangs von Erziehung und Bildung bildete den thematischen Schwerpunkts des diesjährigen 38. Internationalen Pädagogik-Symposions in Maria Plain bei Salzburg.
...
Problematisches Generationsverhältnis
Der Würzburger Erziehungswissenschaftler Ulrich Wehner problematisierte in seinem Vortrag die These von der Umkehrung des Generationsverhältnisses:

Im Zuge von beschleunigten technologischen Veränderungen zeichnet sich demnach die biologisch jüngere Generation gegenüber der älteren durch Kompetenzüberlegenheiten aus. Auf diese Weise wird, so der gängige Vorwurf, das strenge Nacheinander von Erziehung und Bildung aufgebrochen.
Nicht gebunden an eine Altersgrenze
Wehner gibt jedoch in Anlehnung an den Theologen, Philosophen und Pädagogen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) zu bedenken, dass die Zugehörigkeit zur älteren oder jüngeren Generation - im Unterschied zum politisch-rechtlichen Mündigkeitsbegriff - nicht an einer bestimmten Altersgrenze gebunden werden kann.

Demgemäß könne ein biologisch jüngerer Mensch, pädagogisch betrachtet, zur älteren Generation gehören, während ein älterer Mensch bisweilen der jüngeren Generation zugerechnet werden müsse, erläuterte Wehner.
Kompetenz - keine Frage des Alters
Die These von der Umkehrung des Generationsbegriffs wird laut Wehner auf diese Weise zu einer problematischen, denn in letzter Konsequenz werden "ältere" und "jüngere" Generation zu Grenzbegriffen.

Kompetenz aber ist keine Frage des Alters. Denn, wie Wehner weiter ausführte, ein jeder habe schon etwas und niemand schon alles "zu berücksichtigen und zu verantworten gelernt".
Alterskategorien als "Sonderfall" des Bildungsweges
Wehner weiß wohl um die Brisanz des vielfach zitierten Kompetenzvorsprungs der jüngeren Generation:

"Gewiss trifft es zu, dass die nachwachsende Generation gerade unmittelbar nach Schulzeit oder Studium, für gewöhnlich über mehr 'neues Wissen' verfügt als die ältere". Dies sei aber eben nur durch die Organisierung des Bildungsprozesses im Rahmen der Generationsverhältnisse möglich. "Denn ohne Überlieferung gelangt niemand auf die Höhe seiner Zeit."

Für den Bildungsweg lässt sich folglich konstatieren, dass es sich nur mehr um einen "Sonderfall" handele, wenn Kinder und Jugendliche der aneignenden Generation und Erwachsene der vermittelnden angehören.
...
Der Erziehungsgedanke selbst wird nicht überflüssig
Weiterhin aufrecht bleibe allerdings, dass die Differenz zwischen kindlichem und erwachsenem Lernen in formaler, inhaltlicher, theoretischer wie auch praktischer Sicht zu berücksichtigen ist.

Mit anderen Worten: Der Erziehungsgedanke selbst werde auch in der Auflösung von Generationsverhältnissen keineswegs überflüssig. Denn wie Wehner mit Bezug auf Schleiermacher betont, "trägt die ältere kulturansässige Generation für die jüngere derart Verantwortung, dass sie diese begabt, jene zu überflügeln."
->   Institut für Pädagogik der Universität Würzburg
...
Für eine Erziehung ohne Sentiment, Emotionen und Moral?
Gegen eine Überfrachtung der Leitvorstellungen von Erziehung mit Sentiment und Emotionen, aber auch mit Moral trat in Maria Plain Gaby Herchert, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Bielefeld, ein.
Zusammenhang mit geltender Rechtsordnung
In einer historischen Untersuchung zeigte die Pädagogin auf, dass der Erziehungsbegriff untrennbar mit der jeweils geltenden Rechtsordnung verbunden ist:

"Erziehungsverhältnisse bedürfen der rechtsförmigen Konstatierung - das Recht gibt vor, wer im Einzelfall überhaupt und in welchem Maße erziehen darf. Zugleich werden durch geltendes Recht Erziehungsziele und Erziehungsmittel vorgegeben, die auf die jeweilige Rechtsordnung ausgerichtet sind."
Mittelalter: Erziehung als "In-Funktion Bringen"
So war die Erziehung im Mittelalter eine gezielte Einweisung in die Welt- und Rechtsordnung, ein "In-Funktion Bringen", das auf den außerpädagogischen Kontext des Erziehungsbegriffs verweise, erläuterte Herchert. Das Schwert wurde beispielsweise "erzogen", um sich seiner im Kampf zu bedienen.
...
Mittelhochdeutsch: Erziehen als umfassendes Ernähren
Demnach heißt Erziehen im Sinne von educare mittelhochdeutsch neren, fuden und bezeichnet ein umfassendes Ernähren, das die sorgsame pflegerische Aufzucht beschreibt. Erzogen werden Saatgut, Bäume, Haustiere und Kinder gleichermaßen. Sie werden aus ihrem ursprünglichen Zustand umhegend herausgeführt, um sie ihrer Funktion zuzuführen.
...
Kindheit: Vorbereitung auf künftige Funktion
Kindheit gestaltete sich damit im Mittelalter als eine schrittweise Integration in den zukünftigen, per Geburt festgelegten Status. "Die Funktion, die das Kind als Erwachsener einnehmen wird, wird in der Phase der Kindheit antizipiert", so Herchert.

Auf diese Weise wurde auch der Erfolg von Erziehung messbar, wie die Wissenschaftlerin ausführt: "Wenn der Zögling die ihm zugedachte Stellung in der Rechtsordnung so übernimmt, wie es seine rechtlichen Voraussetzungen erwarten lassen, ist die Erziehung geglückt. Um dies zu erreichen, muss der Erzieher dem Zögling gegenüber sein Züchtigungsrecht geltend machen."

Entsprechende Warnungen, insbesondere vor allzu großer Nachlässigkeit bei der Ausübung des Züchtigungsrechts, sind zu dieser Zeit daher nicht selten.
Privatsphäre verdrängt rechtliche Grundlagen?
Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert geraten die rechtlichen Grundlagen der Erziehung allerdings aus dem Blick, so die Ergebnisse von Hercherts Untersuchung:

Die Trennung von Arbeitswelt und Privatsphäre führen zu einer "Sakralisierung" von Ehe und Familie. Die Mutter wird zu einer Wärme spendenden Anmutsfigur stilisiert, die sich als Nur-Hausfrau ganz der Erziehung ihrer Kinder widmet.

Auf diese Weise werde die rechtliche Bedeutung der Erziehung marginalisiert und bleibt randständig auf der Person des strafenden Vaters beschränkt. Ein Bild, das laut Herchert in den pädagogischen Diskurs übernommen wird.
Rechtsfragen: Institutionalisierter Erziehung vorbehalten?
Nicht zuletzt auf Grund der Überlagerung vom Bildungsgedanken bzw. der Bildungsutopie, die zur Vervollkommnung der Menschheit gleichermaßen wie der Gesellschaft führen soll, wird der direkte Bezug von Erziehung und Recht nur mehr im institutionalisierten Kontext offensichtlich.

"Der direkte Bezug von Erziehung und Recht wird meist nur da thematisiert, wo Erziehungswesen institutionalisiert und damit der Gesetzgebung deutlich unterworfen wird", konstatiert die Wissenschaftlerin und zeigt sich irritiert.

Denn insgesamt sei der Bedarf an gesetzlicher Regelung seit der Stärkung der Stellung der Mutter im Zuge der Gleichberechtigungsgesetzgebungen sowie der Kindschaftsreformgesetze, die zur Abschaffung der Unterscheidung von ehelichen und unehelichen Kindern geführt haben, größer geworden.
Keine Erziehung ohne rechtliche Grundlegung
Die Erziehungsziele wie Erziehungsmittel sind auch heute dem Recht eingeschrieben: "Hinsichtlich der Erziehungsziele stärkt die demokratische Rechtsordnung die Stellung des Kindes, das Ziel der Erziehung wird vom Kind aus 'zu dessen Wohl' definiert", betonte Herchert.

Das Züchtigungsrecht ist dem Züchtigungsverbot gewichen - das zwar nicht einklagbar ist, aber im Falle eines Sorgerechtsmissbrauchs zum Eingreifen des Familien- bzw. Jugendgerichts führen kann.

"Der Gesetzgeber will in erster Linie eine Bewusstseinsänderung der Bevölkerung herbeiführen, er tritt als 'Erzieher' auf. Es wird deutlich, dass die Rechtsordnung als der Erziehung vorgängig gedacht wird und Erziehung inhaltlich bestimmen soll", so das Fazit der Untersuchung.
Recht als Prinzip der Erziehung - eine Chance?
Das Recht als ein Prinzip des Erziehungsbegriffs zu denken, eröffne Möglichkeiten, sich gegen die Überfrachtung der Leitvorstellungen von Erziehung mit Sentiment und Emotion - aber eben auch Moral zu wehren - so das Fazit der Schlussbetrachtung.

Agnieszka Dzierzbicka, science.ORF.at
->   Fakultät für Pädagogik an der Universität Bielefeld
->   Lehrstuhl für historische und systematische Pädagogik, BUGH Wuppertal
->   Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien
...
Internationales Symposion in Maria Plain
Zur Tagung in Maria Plain luden gemeinsam Jörg Ruhloff vom Fachbereich für Erziehungswissenschaften der GH-Universität Wuppertal und Alfred Schirlbauer vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien.

Die vollständige Fassung der referierten Beiträge von Ulrich Wehner, Gaby Herchert, Andreas Dörpinghaus und Lutz Koch sowie ein Protokoll der anschließenden Diskussionen erscheint in der "Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik".
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010