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Evolution: Doch ein Faktor im Räuber-Beute-Verhältnis  
  Räuber und Beute in einem Ökosystem stehen bekanntermaßen in einem engen Verhältnis zueinander: Es gibt bestimmte Zyklen, in denen sich beide Populationen abhängig voneinander vermehren oder abnehmen. Bislang haben Biologen aus jenem dynamischen System den Faktor der Evolution völlig herausgehalten. Das Argument: Entwicklungsgeschichtliche Prozesse seien viel zu langwierig, um eine Rolle zu spielen. Doch nun muss möglicherweise umgedacht werden - denn US-Forscher haben nachgewiesen, dass sich gerade hier eine besonders rasante Evolution bemerkbar machen kann.  
Die Studie, durchgeführt unter der Leitung von Takehito Yoshida von der Cornell University, könnte somit eine liebgewordene Vereinfachung zur Disposition stellen. Die Ergebnisse der Wissenschaftler wurden im aktuellen "Nature" publiziert.
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Der Artikel "Rapid evolution drives ecological dynamics in a predator-prey system" ist erschienen in "Nature", Bd. 424, Seiten 303-306, vom 17. Juli 2003. Im gleichen Heft findet sich ein begleitender Kommentar: "Evolution in population dynamics" von Peter Turchin (Seiten 257-258).
->   Der Originalartikel in "Nature" (kostenpflichtig)
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Räuber und Beute: Ein grundlegendes Verhältnis
Sie gehören zu den Grundlagen der verschiedensten Ökosysteme: Räuber-Beute-Verhältnisse, bei denen zum einen die Populationsgröße beider Seiten reguliert wird, sowie Energie und Nährstoffe von einer Nahrungsebene zur nächsten gelangen.

Streng nach Theorie steht dabei die Anzahl von Beuteorganismen und den - von ihnen abhängigen - Räubern in einem bestimmten Verhältnis. Beide Bestände regulieren sich gegenseitig und vor allem: mit definierter zeitlicher Verzögerung.
Mehr Räuber - weniger Beute und umgekehrt
Bild: Peter Turchin/
Man kennt diese Rechnungen: Räuberische Arten dezimieren ihre Beutetiere, wobei sie sich immer stärker vermehren. Schließlich nimmt die Zahl der Beutetiere so stark ab, dass wiederum der Bestand der Räuber sich dezimiert - und es der Beute erlaubt, sich wieder zu vermehren.

Die jeweiligen Höhepunkte sind zeitlich leicht versetzt. So in etwa sieht - vereinfacht dargestellt - der ewige Zyklus solcher Beziehungen aus (siehe Grafik).
Klassische Theorie ohne die Evolution
Bild: T.Yoshida and R.O. Wayne/Cornell Universit
Ein Rädertierchen umgeben von Algen
Tatsächlich sind diese Prozesse äußerst komplex und nicht eben leicht zu studieren. Daher konnte es den Biologen nur recht sein, dass der Faktor der Evolution hier keine Rolle spielte. Dessen Auswirkungen seien zu langfristig wirksam, lautete das Argument. Doch diese Annahme könnte nun nicht mehr haltbar sein.

Die Forscher um Takehito Yoshida untersuchten das Verhältnis zwischen zwei im Wasser lebenden Organismen: Rotiferae oder Rädertierchen (Brachionus calyciflorus), die sich von winzigen Einzellern, grünen Algen (Chlorella vulgaris) ernähren.

Ihre Ergebnisse warem dem renommierten Fachjournal "Nature" unter dem schönen Titel "Fast Food" ein Cover wert.
Laborversuch: "Falsche" Zyklen als Ergebnis
Bild: Peter Turchin/
Im Labor reagierten beide Populationen demnach zwar wie erwartet mit deutlichen Zyklen im Bestand, doch deren Verhältnis zueinander bzw. die jeweilige Dauer der Zyklen war "falsch" und entsprach nicht den Vorhersagen der Theorie:

Die Räuber waren genau dann in größter Zahl vorhanden, wenn die Beute auf ihrem niedrigsten Stand war und umgekehrt.
"Rasante Evolution" als Erklärung?
Die Forscher suchten also nach Erklärungen für dieses Phänomen - und stellten vier verschiedene Hypothesen auf, die sie wiederum in mathematische Modelle überführten, um deren Ergebnisse schließlich mit den vorliegenden Daten zu vergleichen. Dabei stellten sie auch die "abwegige" Theorie einer sich rasant weiterentwickelnden Beute - in diesem Fall der Algen - auf.

Das Ergebnis: Nur das darauf basierende Modell lieferte Ergebnisse, die in etwa mit der im Labor beobachteten Zyklus-Länge und deren Verhältnis zueinander entsprachen.

Hier hätten die Forscher, ginge es um ein natürliches System, aufhören müssen. Doch im Labor ergab sich die Möglichkeit, die Resultate noch genauer zu überprüfen.
Zwei Experimente als Beweis
Die Wissenschaftler starteten zwei verschiedene Experimente. Im einen wurden genetisch idente Algen als "evolutionär 'stagnierende' Population" verwendet, wie die Forscher in "Nature" schreiben. Bestandteil des zweiten jedoch war eine genetisch variantenreiche und somit "evolutionär 'aktive' Population".
Klassisches Verhältnis ...
Die Resultate nach einigen Monaten entsprachen fast perfekt den theoretischen Vorhersagen: Die Populationen der Algen-Klone stiegen und fielen sehr rasch, fast synchron mit der Zahl der Rädertierchen und somit entsprechend der klassischen Theorie eines Räuber-Beute-Verhältnisses.
... und Evolution im Zeitraffer
Bei den genetisch diverseren Algen jedoch bot sich ein anderes Bild, das die Autoren als Beweis für ihre Theorie der "Rasanten Beute-Evolution" werten. Die einzelnen Perioden waren sehr viel länger und entsprachen den ersten Beobachtungen.

Die Erklärung der Wissenschaftler: Bei starker Dezimierung der Beute durch die Rotiferae entwickeln sich Algen, die auf irgendeine Weise gegen ihre Räuber geschützt sind. Ihre Zahl steigt folglich an, doch die der Rädertierchen stagniert auf niedrigstem Level.

Durch den fehlenden Druck von Seiten der Räuber können sich auch solche Algen wieder vermehren, die nicht gegen ihre Verfolger resistent sind. Da sie sich zudem deutlich schneller vermehren als ihre geschützten Artgenossen, bilden sie nach einiger Zeit die Überzahl. In Folge steigt auch die Zahl der Räuber wieder an und so fort.
Phänomen mit Folgen für die Humanmedizin?
Wie genau die kleinen grünen Einzeller sich via Evolution vor ihren Verfolgern schützen, können die Forscher allerdings nicht genau sagen. Doch sie weisen darauf hin, dass das Phänomen durchaus auch im Verhältnis von (menschlichem) Opfer und Krankheiten wie AIDS eine Rolle spielen könnte.
Und schließlich: "Chaos" zum Abschluss
Und schließlich scheint damit gar noch eine alte Debatte der Biologie neue Nahrung zu erhalten: Seit langem wird nämlich diskutiert, ob sich in natürlichen Populationen auch Beispiele für die so genannte Nichtlineare Dynamik finden lassen - populärer unter dem Begriff "Chaostheorie".

Bewegungen also, die wie zufällig und von außen gesteuert aussehen, aber doch streng gesetzmäßig nach systeminternen Mechanismen verlaufen. Die beobachteten "falschen" bzw. "chaotischen" Dynamiken könnten genau so ein Beispiel sein, wie Peter Turchin in einem Begleitkommentar in "Nature" feststellt.
->   Cornell University Department of Ecology and Evolutionary Biology
Aktuellen zum Stichwort Evolution in science.ORF.at:
->   "Oldies but Goldies": Neue Evolutionstheorie des Alterns (15.7.03)
->   Evolution der Sprache: Am Kehlkopf liegt es nicht (27.5.03)
->   Neue Studie will Evolution der Flügel klären (16.1.03)
 
 
 
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01.01.2010