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Anarchismus: Strömung oder "Kräuseln" Einzelner?  
  Abseits von Luigi Lucheni, Mörder von Kaiserin Sissi von Österreich, wird hierzulande das Kapitel Anarchismus in der Habsburgermonarchie kaum beleuchtet. Fakt ist, dass Österreich in Folge der Anarchistenattentate den Ausnahmezustand verhängen ließ. Ob dieser wirklich vis a vis einer ganzen Terror-"Welle" erfolgte, hat die Juristin Eva Matt am Juridicum Wien in einer Seminararbeit untersucht - nachzulesen in mnemopol.net und vorgestellt in science.ORF.at.  
Anarchisten als "Kinderkrankheit" der Arbeiterbewegung?
Von Oliver Gingrich, mnemopol.net

Weitaus später als anderswo in Europa entwickelte sich in Österreich eine organisierte Arbeiterbewegung. Während sich um Lasalles und Hermann Schulze-Delitschs Ideen zur Selbsthilfe bereits viele Befürworter scharten, verlief darüber hinaus deren Umsetzung äußerst sanft, eingeschränkt durch das scharfe Auge des Gesetzes.

Zunächst war 1863 der erste Arbeiterzusammenschluss - der Fortbildungsverein der Buchdrucker - genehmigt worden. Bekanntlich änderte sich aber erst mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 einiges: Der Wiener Arbeiterbildungsverein erreichte alsbald 3.000 Mitglieder. So fassten - unter ständiger Bewachung der Polizei - auch radikale Begleiterscheinungen sozialistischer Bewegungen in Österreich Fuß.
Zauberformel der Denunziation
Nach verfassungsrechtlicher Ebnung zur Vereinsbildung blieb es für die Arbeiterschaft in der Habsburgermonarchie schwierig. Die Volksstimme wurde 1869 gegründet und gleich wieder verboten. Forderungen nach einem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, nach Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie nach Pressefreiheit im Keim erstickt.

Repressionen gegen politische Arbeitervereine blieben also an der Tagesordnung, gipfelnd im Hochverratsprozess von 1870. In den 18 Jahren vor sozialistischer Parteigründung stieg politischer Unmut zwar sicherlich bei einigen, die Sprachregelung "Anarchisten" aber, wurde von konservativer Seite all zu gerne als Diffamierungsformel für alle Arbeiter herangezogen.
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Etymologische Chaostage: Zum Begriff Anarchismus
Ursprünglich leitet sich der Begriff Anarchismus aus den Tagen der französischen Revolution ab. Selten gebraucht als Selbstbezeichnung, vielmehr wie etwa bei den deutschen Sozialistengesetzen von 1878-1890 in der Gleichsetzung mit Terror und Vandalismus. "An-archie", wie man es damals schrieb, blieb eine Fremdbezichtigung, obgleich die Definition zunehmend engmaschiger wurde.

Im Zuge der I. Internationale kristallisierten sich nun Absichten heraus: Ablehnung von Obrigkeit und Staat, Kritik der bürgerlichen Demokratie sowie Kritik des autoritären Sozialismus waren die Credi. Damit rückten die Anarchisten als Gruppe zusammen und gleichsam an den äußersten Rand des sozialistischen Spektrums. Sie besiegelten gleichsam ihren eigenen Ausschluss, welcher ihnen 1896 auf der II. Internationale auch beschieden wurde.
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Zwei Köpfe - Zwei Wege
Während ihrer kurzen Hochkonjunktur in den 1870er und 1880er Jahren, waren es in Österreich vor allem zwei mondäne Köpfe, die richtungsweisend für die kleine anarchistische Strömung waren.

Johann Most, Publizist in der "Freiheit", versuchte vergebens einen Bogen zwischen Anarchisten und Sozialdemokraten zu spannen. Joseph Peukert, seines Zeichens eingefleischter Anarchist mit Erfahrungsbonus, versuchte die Umkehrung: Eine Losspaltung von der Sozialdemokratie.

Der Flügelkampf der beiden kostete den Anarchisten schließlich nahezu gänzliche Sympathien. Beide Agitatoren flohen zuletzt das Land, auch um dem Ausnahmezustand in Österreich zu entgehen.
Propaganda der Tat
Neben der Bruchlinie Sozialdemokratie war es eine weitere, die den Anarchismus als zerfranste Bewegung kennzeichnete. Malatesta und Cafiero, die Bekanntesten italienischen Anarchisten schufen 1867 in Bern auf der I. anarchistischen Internationale den Begriff der Propaganda der Tat.

Ein Begriff voll Sprengkraft, der sich selbst jedoch in erster Linie als "Insurrektion" und nicht als politisches Attentat verstand. In Österreich - wie sonst - waren dies selten bis nie organisierte Verbrechen, eher Anschläge Einzelner. 1882 war das Merstalliger-Attentat beispielhaft, das als erstes den Anarchisten angekreidet wurde.
Mit drei Attentaten in den Ausnahmezustand
Der Schuhwarenfabrikant Joseph Merstalliger wurde betäubt und ausgeraubt. Die Polizei verstand es, das Attentat als politisch motiviertes zu verschleiern. Demnach wurden die Täter alsbald zu Anarchisten gemacht, ohne dass ihre Identität bekannt war.

Hingegen handelte es sich im Folgefall von 1884 eindeutig um klassische "Anarchistentaten". Die ermordeten Polizeiagenten Blöch und Hlubek hatten über Jahre Denunziantentum in sozialistischen Bewegungen gefördert, hatten in Redaktionsstuben spioniert und ganze Familien überwacht. Ressentiments gegen das Spitzelwesen und deren Vertreter waren daher in der ganzen Arbeiterschaft vorhanden.

Bevor die Attentäter Stellmacher und Kammerer ihren Tod durch Strang finden sollten, legten sie noch Zeugnis ab: über die verzweifelte Lage der Arbeiterschaft - ihren Beweggrund. Jedoch distanzierte sich die offizielle, noch unparlamentarische Sozialdemokratie von den Attentaten sofort. Diese sollten ja letztlich auch wirklich zum Ausnahmezustand führen.
Zwischen Verzweiflungstat und Fanatismus
Die Autorin Eva Matt recherchierte in den Gerichtsakten zu den Fällen Anton Kammerer und Joseph Stellmacher, und gibt somit Porträts ihrer "Bewegung" wieder - irgendwo zwischen Verzweiflungstat und Fanatismus.

Fazit drei Attentate - drei Täter. Bei Lektüre wird ersichtlich, dass Anarchimus in Österreich weder Massenphänomen war, noch breite Bewegung. Tatsächlich blieb die Propaganda der Tat ein Phänomen der Einzelregie.

Und dabei ermöglichte nur die Hochstilisierung einer Handvoll Täter zur Massengefahr fürs Land den Ausnahmezustand von 1884 - mehr darüber zu lesen auf www.mnemopol.net.
->   Die Arbeit nachzulesen in mnemopol.net
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Informationen zur Autorin Eva Matt
Eva Matt (geb. Dezember 1978) begann ihr Jusstudium im Oktober 1997 und beendete dieses im Oktober 2002. Schwerpunktthemen während des Studiums fanden sich insb. im Bereich der Rechtsgeschichte, der Menschenrechte und der Legal Gender Studies. Zurzeit beschäftigt sie sich mit Recherchen für ihre Dissertation im Bereich Rechtsphilosophie / Medizinrecht.
->   Weitere Beiträge von mnemopl.net in science.ORF.at
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01.01.2010