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Europa auf dem Weg zu einer Verfassung  
  Mit dem Entwurf zu einer Verfassung der Europäischen Union hat der Einigungsprozess Europas einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Johannes Pollak, Politikwissenschaftler an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, geht im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach der bereits Jahrzehnte dauernden Entwicklung dieses Prozesses nach. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at bezeichnet er das Projekt - bei aller möglicher Kritik - als Erfolgsgeschichte, der ein grundlegendes Ziel gelungen ist: die Sicherung des Friedens.  
Europa-Verträge: Eine Erfolgsgeschichte
von Johannes Pollak

Nach sechzehn Monaten teils heftig geführter Kontroversen schloss der Konvent zur Zukunft Europas am 10. Juli 2003 seine Arbeit mit einem Entwurf der Verfassung Europas ab. Gemäß Artikel 48 des Vertrages über die Europäische Union, welcher alleine den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten ein Vertragsveränderungsrecht einräumt, wird die kommende Regierungskonferenz ab Herbst über diesen Entwurf beraten.

Mit dem Abschluss dieser Beratungen ist im ersten Halbjahr 2004 zu rechnen. Wird der dann vorliegenden Text von allen Mitgliedstaaten ratifiziert (mehrere Mitgliedstaaten haben bereits angekündigt Volksabstimmungen durchzuführen) tritt die erste Verfassung Europas in Kraft.
Schritt in Richtung Transparenz
Ohne Zweifel war die Einrichtung des Konvents ein großer Schritt in Richtung einer transparenteren Union. Spätestens seit den Debatten um die Ratifikation des Vertrages von Maastricht ist die EU mit dem wachsenden Unbehagen der europäischen Bürger konfrontiert.

Die Umfragewerte zeigen eine wachsende Skepsis gegenüber dem Integrationsprojekt. Der Gipfel von Nizza im Dezember 2000, welcher das Ziel hatte, die Union auf die Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten vorzubereiten, endete mit nur bescheidenen Erfolgen.
Zukunft der EU nicht nur in Regierungs-Händen
Zu sehr standen nationale Eitelkeiten und der Versuch der Wahrung nationaler Besitzstände einer sinnvollen europäischen Lösung im Weg. Es war die Erklärung von Laeken im Dezember 2001, welche den Weg für eine andere Form der Vertragsreform ebnete. So kann der Konvent auch als ein Versuch interpretiert werden, die Zukunft der EU nicht alleine in die Hände von fünfzehn Staats- oder Regierungschefs zu legen, die hinter verschlossenen Türen, weit abseits von ihren nationalen Parlamenten über Abstimmungsmodi, institutionelle Reformen und Verfahren entscheiden.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Die Seminarwoche während des Europäischen Forums in Alpbach ("Continuity and Discontinuity", 14. August bis 30. August 2003) bildet alljährlich die Möglichkeit des intensiven Austausches und der Diskussion von Themen mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Johannes Pollak hält dabei gemeinsam mit Christine Stockhammer ein Seminar ab mit dem Titel" Continuity and the challenge of change: The European Project toward A European Federal State?" science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Mehr über das Europäische Forum Alpbach
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Konstitutionelle Entwicklung ...
Auch wenn der Begriff einer europäischen Verfassung erst mit dem Konvent in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten ist, bezeichnete doch der Europäische Gerichtshof bereits im Jahr 1986 die den Europäischen Gemeinschaften zugrundeliegenden Verträge als "konstitutionelle Charter". Die konstitutionelle Entwicklung der Europäischen Union ist also wesentlich älteren Datums.
... begann schon viel früher
Bereits in der Zwischenkriegszeit kam es zu Entwürfen für ein föderales Europa mit einer gemeinsamen Armee, beachtlichen Rechtsetzungskompetenzen und einem unabhängigen Budget. In den frühen fünfziger Jahren präsentierte die Ad-hoc Versammlung - der Vorläufer des heutigen Europäischen Parlaments - unter ihrem Präsidenten Paul Henri Spaak einen Vertragsentwurf, der ein föderales Europa als mittelfristiges Ziel vor Augen hatte.
Europäischer Gerichtshof als Hauptmotor
Aber das Ende der Korea-Krise 1953 und die skeptische Haltung der französischen Nationalversammlung gegenüber einem Transfer von Souveränitätsrechten auf die europäische Ebene markierten das Ende für das Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Für die folgenden 30 Jahre bestimmte der Europäische Gerichtshof mit seiner integrationsfreundlichen Auslegung der Gründungsverträge die konstitutionelle Entwicklung der Union.
Ziel einer politischen Union seit 1983
Im Juni 1983 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs eine feierliche Erklärung zur Europäischen Union in Stuttgart. Diese politische Erklärung zielte auf die Schaffung einer politischen Union - eine Fortentwicklung der primär ökonomischen Integrationsmotive, die auch schon der "Tindemanns-Bericht" 1976 anmahnte. Die Zukunft der Integration sollte von einer Freihandelszone zu einer echten politischen Gemeinschaft führen.
Statt Spinelli-Entwurf: Einheitliche Europäische Akte 1987
Zu einiger Bekanntheit gelangte auch der sogenannte Spinelli-Entwurf - benannt nach Altiero Spinelli, einem federführenden Mitglied des Europäischen Parlamentes aus dem Jahr 1984. Allerdings entschieden sich die Mitgliedstaaten diesen sehr ambitiösen Entwurf nicht umzusetzen - vielmehr wurde im Jahr 1987 die Einheitliche Europäische Akte verabschiedet, welche die Rechte des EP ausbaute und v.a. die Finalisierung des Binnenmarktes entscheidend vorantrieb.

Sowohl der Spinelli-Entwurf als auch die Einheitliche Europäische Akte waren Reaktionen auf die so genannte "Eurosklerose" der 70er Jahre, eine Phase der Stagnation im Integrationsfortschritt.
Lauter werdende Kritik am Demokratiedefizit
1994 nahm der Herman-Entwurf das Ziel einer europäischen Verfassung erneut auf. Die immer lauter werdende Kritik am Demokratiedefizit sowie an strukturellen Defiziten, die mit der Aufnahme neuer Mitglieder noch schlagender werden würden, veranlassten einen neuen Nachdenkprozess. Die rasche Abfolge von Regierungskonferenzen (1991 Maastricht, 1997 Amsterdam, 2000 Nizza), die alle in Vertragsreformen mündeten, waren und sind ein Ausweis für die Reformbedürftigkeit der Union.
Einstimmigkeit immer schwieriger
Aber Kompromisse waren auf den Gipfeln immer schwerer zu erreichen. Zum einen weil die voranschreitende Integration immer mehr Politikbereiche vereinnahmte, die klassischerweise zu den staatlichen Prärogativen zu zählen sind (z.B. Verteidigungspolitik), zum anderen, da immer mehr Mitgliedsländer am Verhandlungstisch saßen. Einstimmigkeit für gemeinsame Politikvorhaben zu erzielen, wurde immer schwieriger.
Verfassungsgesetze für die Kontrolle der Exekutive
Ein Ausweg war die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU. Doch diese Ausweitung garantiert nicht die parlamentarische Kontrolle exekutiver Entscheidungen. Zahlreiche nationale Parlamente, so auch das österreichische, sahen sich veranlasst, (Verfassungs-)Gesetze für die Kontrolle der Exekutive ins Leben zu rufen. Eine zufriedenstellende Lösung für die Zusammenarbeit aller parlamentarischer Kräfte der Mitgliedsländer mit dem Europäischen Parlament ist allerdings auch nicht durch den Konvent erreicht worden.
Kontinuierlicher Prozess mit Kompromissen, ...
Begreift man eine Verfassung als einen verbindlichen Katalog von Spielregeln, der das Zusammenwirken der drei wesentlichen politischen Kräfte (Exekutive, Legislative, Judikative) in einem System wechselseitiger Kontrolle regelt, so zeigt der kurze Rückblick in die Geschichte der Vertragsreformen zweierlei: Erstens, die Etablierung der europäischen Verfassung ist ein kontinuierlicher Prozess, der eine Fülle nationaler Rechts- und Politiktraditionen kompromisshaft vereint.
... der Frieden sichert: Eine Erfolgsgeschichte
Zweitens, die EU hat sich von einem intergovernmentalen Zweckverband zu einer politischen Gemeinschaft entwickelt. Auch wenn in der medial hergestellten Öffentlichkeit von der Union zumeist im Zusammenhang mit Krisen und Skandalen die Rede ist, so ist das "Projekt Europa" doch ein durchschlagender Erfolg.

Bei aller möglicher Kritik an der Intransparenz der Entscheidungsmechanismen, der Bürgerferne der europäischen Institutionen und den demokratisch manchmal bedenklichen Strukturen der Union darf ein Ziel der Gründerväter nicht aus den Augen verloren werden: die Sicherung des Friedens. Der zur Zeit vorliegende Entwurf einer Verfassung Europas ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte.
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Über den Autor
Pollak, Johannes, Research Fellow an der Forschungsstelle für Institutionellen Wandel und Europäische Integration der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, geb. 1969 in Klosterneuburg, Studium der Politikwissenschaft' und Philosophie an der Universität Wien; Post-Graduate Studium am Institut für Höhere Studien in Wien; MSc. in Political Theory an der London School of Economics and Political Science, London; Lektor an der Universitäten Wien, Salzburg und an der Webster University Wien. Arbeitsgebiete: Politische Theorie und Philosophie; Europäische Integration.
->   Johannes Pollak (ÖAW)
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->   Europäisches Forum Alpbach 2003
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Wie funktioniert Europarecht In der EU? (24.6.03)
->   Habermas, Derrida & Co fordern Erneuerung Europas
->   Die Demokratisierung Europas: Ein fruchtlose Nabelschau? (4.5.01)
->   Nachhaltige Visionen für Europa (9.5.01)
 
 
 
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01.01.2010