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Soziologe: Bedürfniswandel der Gesellschaft  
  Derzeit ist man bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse auf immer Neues und Besseres fixiert. Doch dieser Trend hält nicht an, meint ein deutscher Soziologe, der Anzeichen für diese Veränderungen entdeckt haben will.  
Alles soll immer besser werden. Produkte der Technik wie Autos und Computer ebenso wie Reisen und andere Erlebnisangebote. Das wollen sowohl Wissenschaftler, Techniker und Unternehmer als auch Konsumenten.

Aber wird diese Fixierung unserer Gesellschaft auf das Immer-besser und Immer-mehr weiterhin dominant bleiben? Anzeichen für Veränderungen sind das zentrale Thema des neuen Buches des Soziologen Gerhard Schulze von der Universität Bamberg, "Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?".
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Gerhard Schulze: "Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?". Erschienen im Verlag Carl Hanser (München), 392 Seiten, etwa 24,90 Euro (ISBN 3-446-20281-1).
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Die "unendlichen Bedürfnisse" des Menschen
Sind die Bedürfnisse der Menschen unendlich? Zweifel erscheinen zunehmend angebracht. "Im selben Maß, wie das Potenzial des Steigerungsspiels zunimmt, vermindert sich der Bedarf nach seinen Angeboten", schreibt Schulze, dessen Buch "Die Erlebnisgesellschaft" in den 90er Jahren viel von sich reden machte.

"Voll Eifer stürzen sich die Akteure auf immer entlegenere Bedürfnisse, um das Steigerungsspiel doch noch weiterzutreiben." Gleichzeitig erhebt sich aber die Frage nach dem Sinn des Ganzen.
Abwandlungen statt Steigerungen
Was erscheint Menschen halbwegs sinnvoll, wenn sie ihren Verstand beisammen haben, fragt der Autor und konstatiert zu den Bedürfnisbereichen von Essen, Kleidung, Gesundheit, Wohnen, Fortbewegung, Kommunikation und Information:

"Wenn eine bestimmte Grenze erreicht ist, werden aus Steigerungen Abwandlungen auf gleich bleibendem Niveau. Man mischt die Zutaten immer wieder neu zusammen, verändert das Design, kombiniert Funktionen immer wieder anders, doch unter dem Strich kommt keine Nutzensteigerung mehr heraus, weil der Nutzen bereits über die Ausnutzungsmöglichkeiten des Menschen hinausgetrieben ist."

Konsumenten wollen "vielleicht schnurlose Telefone, kratzfeste Badewannen oder bügelfreie Bettwäsche. Aber sie wollen auch noch anderes, etwa Kontemplation, Erkenntnisse, Liebe, Gespräche, tiefgehende Begegnungen, und sie wissen, dass sie dies von Technik und Produktionsapparat nicht bekommen können."
"Vom Können zu mehr Sein"
In diese Richtung scheinen dem Bamberger Soziologen auch die beobachteten Orientierungsveränderungen zu gehen - nämlich vom Können zu mehr Sein. Während "Können" sich um Haben und die Steigerung der Möglichkeiten dreht, geht es beim "Sein" darum, etwas mit der Situation anzufangen.

Das Steigerungsspiel wird nach Ansicht des Autors nicht verschwinden, "aber seine Bedeutung wird in dem Maß zurückgehen, wie die seinsgerichtete Sozialsphäre Aufmerksamkeit, Ehrgeiz und Energie der Menschen auf sich ziehen wird."

Schulze spricht von einer "Zweigleisigkeit". Seine These ist, "dass die Zeit reif ist für die Verbindung der beiden Denkwelten von Können und Sein."
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Praktische Auswirkungen etwa für die Marktforschung
Dieser Wandel könnte in verschiedenen Bereichen deutliche praktische Auswirkungen haben - zum Beispiel auf die Marktforschung. "Diese war in der Vergangenheit anbieterzentriert. Sie ging von Vorgaben aus und testete vollendete Tatsachen. Die Marktforschung der Zukunft ist verbraucherzentriert. Sie besteht einerseits in langfristiger Beobachtung des tatsächlichen Gebrauchs von Produkten in Alltagssituationen, andererseits in Dialogen zwischen Verbrauchern und Produktentwicklern über mögliche Neuerungen.
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"Die beste aller Welten"?
Der Titel des Buches bezieht sich im Übrigen auf die These des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), dass die von Gott geschaffene Welt die beste aller möglichen Welten sei.

Gegen sie setzte sich im Zuge der Aufklärung die für die Kultur der westlichen Welt seitdem bestimmende Vorstellung durch, die beste aller Welten sei noch nicht verwirklicht. Die Folgerung, dass es die Welt zu verbessern gilt, scheint zwar gültig zu bleiben, doch versucht Schulze zu zeigen, dass sich gleichzeitig Denken und Verhalten der Menschen wandeln.

Rudolf Grimm, dpa
->   Empirische Sozialforschung an der Universität Bamberg
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   "Überflussgesellschaft" und die Macht der Bedürfnisse (17.1.03)
 
 
 
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01.01.2010