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Anfang und Ende des individuellen menschlichen Lebens  
  Angesichts der gegenwärtig stattfindenden Revolution in den Lebenswissenschaften müssen unsere bioethischen Grundsätze einer Revision unterzogen werden. Der Grazer Pathologe Kurt Zatloukal untersucht im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Frage nach dem Beginn und Ende des menschlichen Lebens. In einem Gastbeitrag für science.ORF.at weist er darauf hin, dass sowohl der Tod als auch die Befruchtung mehrstufige Prozesse sind - eindimensionale Grenzziehungen werden daher dem naturwissenschaftlichen Wissensstand nicht gerecht.  
Revolutionen in der Biomedizin
Von Kurt Zatloukal

Die biomedizinische Forschung erlebte in den letzten Jahren eine nahezu revolutionäre Entwicklung. Das erfolgreiche Klonen von Säugern, die Kultivierung menschlicher embryonaler Stammzellen und die Sequenzierung des menschlichen Genoms haben unser Wissen über den Menschen derart verändert und erweitert, dass mehrere Kapitel in den Lehrbüchern neu geschrieben werden müssen.
Bioethische Debatte mit neuem Stellenwert
Auch haben diese Entwicklungen zu großen ¿ zum Teil unrealistischen - Erwartungen hinsichtlich deren Umsetzung in der Medizin geführt, und Besorgnis erregt, dass Sie unabsehbare negative Folgen für den Menschen haben könnten.

Als Reaktion auf diese für die Gesellschaft nicht mehr einschätzbaren Fortschritte in der biomedizinischen Forschung bekam die ethische Bewertung von Forschung einen neuen Stellenwert und es wurde eine neue Bereichsethik, die Bioethik, etabliert.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Das Seminar "Anfang und Ende des individuellen menschlichen Lebens" findet im Rahmen des Europäischen Forum Alpbach 2003 statt. Als Vortragende zu verschiedenen bioethischen Themenfeldern fungieren neben Kurt Zatloukal: science.ORF.at-Host Ulrich Körtner, Jörg Eidher und Christian Kopetzki. Seminartermine: 15.-16., 18.-21.8.2003, jeweils 9.00-12.00
->   Mehr über das Forum in science.ORF.at
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Wann beginnt ein Menschenleben?
Forschungen im Umfeld der frühembryonalen Entwicklung des Menschen, insbesondere die Etablierung von embryonalen Stammzellen sowie die Generierung genetisch identer Nachkommen durch Übertragung eines Zellkerns (Klonen), führen neben der Diskussion von zahlreichen technischen und biologischen Aspekten unweigerlich zur Frage, wann Menschenleben beginnt.

Von dieser Definition hängt die weitere Entwicklung der biomedizinischen Forschung in diesem Bereich, sowohl aus ethischer als auch rechtlicher Sicht ab.
Diskussion oft nicht wissenschaftlich fundiert
Da die Frage nach dem Beginn des Menschseins weder mit den Möglichkeiten der Naturwissenschaft noch der Geisteswissenschaft jemals konkret beantwortet werden kann, wird in diesem äußerst sensiblen Bereich die Diskussion überwiegend von apodiktischen Standpunkten geprägt und nicht wissenschaftlich fundiert geführt.

Im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit den neuen Möglichkeiten der Biomedizin ist es erforderlich, Strategien zu entwickeln, die es ermöglichen uns vorsichtig an die Problematik heranzutasten und, dass wir bereit sind, unsere Position im Lichte der wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnis stets neu zu überdenken.
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Eingrenzung des Problems durch Entwicklungsvergleich
Eine Möglichkeit, den Beginn und das Ende des Menschseins besser zu verstehen, ist, durch vergleichende Analyse unterschiedlicher Situationen zumindest Teilaspekte der Problematik durch Analogieschlüsse einzugrenzen. Beispiele für derartige Situationen sind die phylo- und ontogentischen Entwicklung des Menschen, die Vorgänge im Rahmen des Todes oder spezielle Krankheitssituationen, die auch als Experimente der Natur angesehen werden können.
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Embryologie ist eine junge Disziplin
Ein erschwerender Faktor bei der Befassung mit der Embryonalentwicklung des Menschen ist, dass bis ins 19. Jahrhundert die frühe embryonale Entwicklung unbekannt war.

Bis dahin wurde das Entstehen eines neuen Lebens erst durch die Kindesbewegungen bewusst, so dass sich die früheren Entwicklungsstadien der Beobachtung entzogen.

Aus diesem Grund kann bezüglich der frühembryonalen Entwicklung Natur- und Geisteswissenschaft nicht auf jahrtausendelange Erfahrungen aufbauen, welche jedoch eine wichtige Hilfe für eine ethische Bewertung wären.
Das Problem des Todes existiert seit Menschengedenken
Im Gegensatz zur Embryonalentwicklung beschäftigte das Rätsel um das Ende des Lebens die Menschheit seit ihrem Beginn vor mehr als 100.000 Jahren.

Der Totenkult war eines der ersten Zeichen eines religiösen Bewusstseins, ein Charakteristikum des Homo sapiens, welches ihn von den archaischen Homo Spezies und seinen nächsten lebenden Artgenossen, den Menschenaffen, unterscheidet.
Leben: Drei Unterscheidungen notwendig
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms, sowie des Genoms von diversen Tierarten und Bakterien geben uns jetzt neue Möglichkeiten, Leben in seinen unterschiedlichen Entwicklungsformen vom Einzeller bis zum komplexen Organismus auf molekularer Ebene zu verstehen.

Bezüglich des Menschen muss zwischen dem Leben einer menschlichen Zelle, dem lebenden Organismus und dem Leben als Mensch unterschieden werden.
Definition des Embryos hat sich verändert
Weiters hat die theoretische Möglichkeit, dass ein Embryo nicht nur mehr durch Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, sondern auch durch Übertragung eines Zellkerns (Klonen) entstehen kann, mehrere bisher als absolut angesehen Kriterien relativiert.

So wurde es erforderlich, dass die Definition eines Embryos, die bisher auf die Entstehung eines Embryos durch Befruchtung einer Eizelle begrenzt war, in den Gesetzen mehrere Länder erweitert werden.
Entwicklungspotenzial auch in Körperzellen
Auch sind im Fall des Klonens aufgrund der fehlenden Verschmelzung von väterlichem und mütterlichem Erbmaterial bisher angewandte naturwissenschaftliche Kriterien zur Charakterisierung eines Individuums nicht mehr gültig.

Andererseits hat, im theoretischen Falle einer Zellkernübertragung, jede Körperzelle das Potenzial, dass daraus ein neuer Menschen entsteht. Somit findet man das Entwicklungspotential befruchteter Eizellen zumindest teilweise auch in anderen Körperzellen.
Tod und Befruchtung sind mehrstufige Prozesse
Weiters lässt sich naturwissenschaftlich belegen, dass weder die Befruchtung noch der Tod durch einen bestimmten Zeitpunkt zu definieren sind, da es sich in beiden Fällen um mehrstufige Prozesse handelt.

Im Rahmen des Todes wurden diese Prozesse sowie die Dissoziation zwischen Menschsein und biologischem Leben einzelner Organe generell akzeptiert. Andernfalls wäre eine Organentnahme von Toten für die Transplantation nicht möglich.
Dissoziation von biologischem Leben und Menschsein
Hinsichtlich der frühen Embryonalentwicklung wird über ein obligates Zusammenfallen von frühesten biologischen Lebensvorgängen und Menschsein und einem Entwicklungsprozess, der durch die Befruchtung eingeleitet wird, aber erst in weiterer Folge zum Menschsein führt, kontrovers diskutiert.

Wesentliche Argumente, die für eine Dissoziation zwischen Menschsein und biologischem Leben auch in der Embryonalentwicklung sprechen, sind, dass erst nach der Implantation des Embryos in die Gebärmutter um den 7. Tag nach der Befruchtung, Grundmerkmale des Menschen, wie Individualität und genetische Prägung determiniert sind.
Kritik an widersprüchlichen Bestimmungen
Neben dieser widersprüchlichen theoretischen Auseinandersetzung mit der frühen Embryonalentwicklung des Menschen besteht auch eine Reihe von Widersprüchen im praktischen Umgang mit der Problematik.

Der absolute Schutz frühembryonaler menschlicher Entwicklungsformen im Gegensatz zur freizügigen Handhabung der Abtreibung eines Menschen in bereits unvergleichlich weiterer Entwicklung sowie das Verbot der Präimplantationsdiagnostik (Analyse von Embryonen auf Defekte vor deren Implantation in den Uterus) im Gegensatz zur erlaubten Anwendung der Pränataldiagnostik (Untersuchung eines Fötus während der Schwangerschaft) sind wissenschaftlich nicht haltbar und ethisch fragwürdig.
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Über den Autor
Kurt Zatloukal, geb. 1959, Studium der Medizin in Graz, 1985 Promotion, 1992 Habilitation für Molekulare Pathologie, 1991 - 1993 Forschungsaufenthalt am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie in Wien, 1997 Univ.-Prof. am Institut für Pathologie der Universität Graz;
Wissenschaftliche Arbeitsgebiete: Etablierung einer Gewebebank für die funktionelle Genomforschung, Erforschung der molekularen Krankheitsmechanismen bei chronischen Lebererkrankungen, Erforschung und Entwicklung neuer Verfahren zur Diagnose und Therapie von Leberkarzinomen und Brustkrebs.
->   Institut für Pathologie der Universität Graz
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->   Europäisches Forum Alpbach 2003
Weitere Beiträge zum Forum Alpbach 2003 in science.ORF.at
->   Europa auf dem Weg zu einer Verfassung
 
 
 
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01.01.2010