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Menschliche Sprache formt musikalische Vorlieben  
  Menschen nehmen - unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit - gewisse Kombinationen von Tönen als wohlklingend wahr, während dies bei anderen nicht der Fall ist. Warum es solche "musikalischen Universalien" gibt, war bis dato ein ungelöstes Rätsel der Wahrnehmungspsychologie. Amerikanische Forscher warten nun mit einer gewagten Erklärung auf: Unser ästhetisches Empfinden für Musik leitet sich von den physikalischen Eigenheiten gesprochener Sprache ab.  
Wie aus einer Studie Dale Purves und seinen Mitarbeitern von der Duke University in North Carolina hervorgeht, agiert die menschliche Sprache offensichtlich als Reizfilter, der unsere ästhetischen Vorlieben formt. Zu diesem Schluss kommen die Forscher aufgrund eines ausgeklügelten statistischen Vergleichs diverser Sprachen mit der zwölfstufigen Tonleiter.
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Die Studie "The Statistical Structure of Human Speech Sounds Predicts Musical Universals" von David A. Schwartz, Catherine Q. Howe und Dale Purves erschien im aktuellen Haft des "Journal of Neuroscience" (Band 23 (18), Ausgabe vom 6. August 2003).
->   "Journal of Neuroscience"
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Wahrnehmung: Abbildung oder Erfindung?
"Meiner Ansicht nach ist es die Tragik der abendländischen Erkenntnistheorie, dass sie von der zwar sehr verständlichen, aber unsinnigen Annahme ausgegangen ist, dass das, was ich erkenne, schon da ist." So lautet die programmatische Kritik, die Ernst v. Glasersfeld gegen den naiven abendländischen Realismus vorbrachte.

Die alternative Weltsicht, die v. Glasersfeld und seine Gesinnungskollegen Paul Watzlawick, Francosco Varela oder Heinz v. Foerster anbieten, stellt die Grundsätze des Alltagsverstandes gleichsam auf den Kopf. Denn: Wir bilden mittels der Wahrnehmung die Welt nicht ab, so wie sie ist, sondern wir erschaffen sie buchstäblich neu, indem wir erkennen.
Neue Munition für konstruktivistische Argumente
Ob diese seit Mitte der 1980er unter dem Namen "Radikaler Konstruktivismus" firmierende Denkschule wirklich neu ist, darüber ließe sich diskutieren. Manche würden beispielweise einwenden, dass sich das schon bei Immanuel Kant nachlesen lasse.

Wie dem auch sei, Kant konnte jedenfalls noch nicht auf neurobiologische Studien zurückgreifen. Die Konstruktivisten moderner Prägung schöpfen hingegen diesbezüglich aus dem vollen: So liefert etwa eine aktuelle Veröffentlichung im "Journal of Neuroscience" neues empirisches Unterfutter für die konstruktivistischen Thesen.
->   Mehr zum Radikalen Konstruktivismus (murfit.de)
Warum gibt es musikalische Universalien?
Die Neurowissenschaftler David Schwartz, Catherine Howe und Dale Purves gingen im Rahmen ihrer Studie der Frage nach, warum es überhaupt so etwas wie musikalische Universalien ("musical universals") gibt.

Denn trotz aller Unterschiedlichkeit im Umgang mit Musik existieren offensichtlich gewisse Grundmuster quer durch alle menschlichen Kulturen. Das ist zunächst die - willkürliche - Unterteilung von Tonhöhen in zwölf Halbtonschritte, welche die so genannte chromatische Tonleiter definiert.
->   Mehr zu Tonleitern in wikipedia.org
These: Sprache formt musikalische Vorlieben
Außerdem werden in sämtlichen Kulturen ähnliche chromatische Tonkombinationen als wohlklingend empfunden. Warum das so ist, konnte man bislang nicht erklären.

Dale Purves und seine Kollegen stellten folgende Hypothese auf: Die interkulturellen Präferenzen für gewisse Tonfolgen (bzw. -kombinationen) sind in gewisser Weise ein Produkt unserer Sprache.

Denn da die Sprache die wichtigste Quelle periodischer Reize sei, könne sie unsere Erwartungshaltung bezüglich des Wohlklangs von Tönen (vor-)geformt haben.
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Untersuchung von mehr als 600 Sprechproben
Die amerikanischen Neurowissenschaftler überprüften ihre These, indem sie über 600 US-amerikanische Sprechproben untersuchten. Später griffen sie auch auf eine gemischtsprachliche Quelle zurück, die Sprechproben aus dem Deutschen, Französischen, Japanischen sowie Hindi, Mandarin, u.a. enthielt. Eine statistische Auswertung ergab, dass die Kombinationen von Frequenz und Amplitude menschlicher Sprache keineswegs zufällig verteilt sind.
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Schallenergie der Sprache ähnelt jener der Tonleiter
Purves und seine Kollegen konnten zeigen, dass die Schallenergie der menschlichen Sprache an verschiedenen Frequenzpunkten maximal ist. Der Abstand zwischen diesen Punkte spiegelt wiederum die Abstände in der chromatischen Tonleiter wider.

Selbst die Reihung der beliebtesten konsonanten (im Gegensatz zu dissonanten) Tonkombinationen konnten die Forscher aus der Struktur der menschlichen Sprache ableiten.

Mittels statistischer Methoden fanden sie heraus, dass die relative Konzentration der Schallenergie in Sprechproben mit jener von Tonkombinationen vergleichbar ist, die wir gemeinhin als "angenehm" empfinden.
Sehen bedeutet nicht Spiegeln
Um zu akzeptieren, dass ästhetisches Empfinden nicht in der Natur selbst liegt, sondern eine "Erfindung" unseres Wahrnehmungsapparates ist, bedarf es nicht unbedingt eines konstruktivistischen Weltbildes.

Bei früheren Forschungen der Gruppe um Purves dürfte das schon eher der Fall sein: Damals konnten sie zeigen, dass auch das visuelle System nicht einfach spiegelt, was bereits "da draußen" vorhanden ist. Vielmehr sieht der Mensch das, was er aufgrund seiner neurobiologischen "Erwartungshaltung" zu sehen gewillt ist.
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Bezüglich des Farbensehens wurde diese Grundidee von RB. Lotto und D. Purves in dem Aufstaz "The empirical basis of colour perception" (Consciousness and Cognition 11:609-629; 2002) zusammengefasst.
->   Consciousness and Cognition
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Forschungsansatz erweitert
In einer Aussendung werten Purves und sein Team die neue Arbeit denn auch als natürliche Erweiterung ihres ursprünglichen Forschungsansatzes:

"Hören stellt insofern die selbe Herausforderung wie Sehen dar, als die physikalische Welt niemals direkt erfahren werden kann. Wir wissen von Objekten in der Umwelt nur durch die Energie, die mit ihnen Verbunden ist, so etwa in Form von Licht- oder Schallwellen."

Robert Czepel, science.ORF.at
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Literatur-Tipp
Die gesammelten Forschungsergebnisse zur visuellen Wahrnehmung hat Dale Purves gemeinsam mit R. Beau Lotto in dem Buch " Why We See What We Do: An Empirical Theory of Vision" dargestellt.
->   Das Buch bei Sinauer Associates
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Weitere Informationen sowie Wahrnehmungstests finden sich auf der Website von Purves Arbeitsgruppe
->   Purveslab.net
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Körperwahrnehmung im Gehirn ist veränderbar
->   Puzzle-Spiel: Wie das Gehirn Informationen verrechnet
->   Forscher sind dem "Farben Hören" auf der Spur
 
 
 
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01.01.2010