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Warum Darwin kein Darwinist war - und Mendel kein Mendelist  
  Wenn aus den Pioniertaten großer Forscher wissenschaftliche Schulen entstehen, dann nimmt man es mit den historischen Tatsachen nicht immer ganz genau: Entgegen den üblichen Darstellungen wäre nach heutigen Maßstäben Charles Darwin kein guter Darwinist gewesen - und Gregor Mendel kein lupenreiner Mendelist. Ein amerikanischer Wissenschaftshistoriker zeichnet in einem aktuellen Artikel die verschlungenen Wege nach, die Mendels Versuche in der Interpretation seiner Nachfolger beschrieben haben: Nicht alles, was später mit Verweis auf den Mönch aus Brünn veröffentlicht wurde, hätte wohl auch seine Zustimmung gefunden.  
So ist etwa die mechanistische Auslegung seiner klassischen Experimente mit Erbsenhybriden dafür verantwortlich, dass Gene bis zur Gegenwart als molekulare Mini-Merkmale von Tieren oder Pflanzen angesehen werden. Eine Deutung, die den biologischen Tatsachen nur sehr unzureichend gerecht wird.
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Der Artikel "Mendel and modern genetics: the legacy for today" von Garland E. Allen erschien im aktuellen Heft der Zeitschrift "Endeavour" (Band 27, Nr.2, S. 63-68).
->   Zum Original-Artikel (pdf-File)
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Darwin, offizieller Vater des Evolutionsgedankens
Dass Charles Darwin als offizieller Urheber des Evolutionsgedankens gilt, hat wohl jeder aus dem Schulunterricht behalten. Die offizielle Lehrbuchdarstellung liest sich in etwa so:

Nach seiner Weltreise, die Darwin auf dem Forschungsschiff "Beagle" unternommen hatte, sah sich der britische Naturforscher mit der Tatsache konfrontiert, dass es zwischen vielen Organismen auf den verschiedenen Kontinenten verblüffende Ähnlichkeiten gibt.
Selektionstheorie: Prämissen ...
Die Erklärung dafür gab er in seinem 1859 erschienenen Hauptwerk "On the Origin of Species" ab, in dem er u.a. auf Gedankengänge des Geologen Charles Lyell und des Mathematikers Thomas Robert Malthus zurückgriff:

Dabei ging er davon aus, dass die Ressourcen für das Überleben beschränkt sind. Weiters nahm er an, dass Lebewesen im Überlebenskampf unterschiedliche Eignungen besitzen und sich deswegen auch mit unterschiedlichem Erfolg fortpflanzen.

Nun sind, so die dritte Prämisse, diese Eignungen erblich, folglich sollten die Nachkommen der "fitten" Individuen ebenfalls mit guten Merkmalen ausgestattet sein.
... und Folgerungen
Das Ergebnis ist ein Auswahlprozess der Natur, der sich ein ums andere Mal fortsetzt. Damit ergibt sich eine Verschiebung der Merkmale in der Zeit (kurz: die Evolution), was erklärt, warum manche Tier- und Pflanzenarten ähnlich und doch verschieden sind: Sie stammen, wie bereits Darwin erkannte, von gemeinsamen Vorfahren ab.
->   Mehr zu Darwin und der Selektionstheorie (Uni Hamburg)
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Der unbekannte Darwin: Die verflixte Vererbung
Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich Darwin zeitlebens mit unangenehmen Problemen in Bezug auf die Natur der Vererbung herumschlagen musste: Damals stellte man sich nämlich die Verschmelzung von Erbeinheiten wie das Mischen zweier Flüssigkeiten vor ("blending inheritance"). Darwin erkannte, dass aber dadurch gute Merkmale von Generation zu Generation "verdünnt" werden müssten, wodurch der Selektion ihr Ansatzpunkt entzogen würde: Die Evolutionslehre war tatsächlich in Gefahr.
->   Mehr dazu (New York University)
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Fehlgriff des Übervaters: Die Pangenesis-Theorie
In der Spätphase seiner Karriere entwickelte er daher die Pangenensis-Theorie, die dieses Problem zu umgehen suchte. Freilich um den Preis seiner ursprünglichen Annahmen - die Pangenesis-Theorie muss nämlich als Lamarckistischer Fehlgriff bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Darwin war - aus heutiger Sicht - kein besonders guter Darwinist.
->   Mehr zu Pangenesis (wikipedia.og)
Mendels ungelesene Schrift
Hätte Darwin die 1866 erschienene Schrift "Versuche über Pflanzenhybriden" von Gregor Mendel gekannt, dann wäre ihm dieser Umweg erspart worden. Denn darin hatte der österreichische Mönch nachgewiesen, dass die Hypothese der blending inheritance falsch war.

Denn Vererbung basiert vielmehr, wie der Mendelismus lehrt, auf der freien Kombination von unteilbaren "Einheiten" ("particulate inheritance").
->   Die Original-Arbeit bei mendelweb.org
Mendel: Keine Spekulation über Vererbung
Nach Meinung von Garland E. Allen von der Washington University sind die letzten beiden Sätze ziemlich ungenau, wenn nicht sogar falsch: Wie er in seinem Artikel ausführt, hatte Mendel gar kein Interesse, die Natur der Vererbung aufzuklären.

Vielmehr vollzog er die Versuche mit Erbsen unter dem praktischen Gesichtspunkt der Pflanzenzucht. Er wollte lediglich zeigen, unter welchen Bedingungen hybride Pflanzen die (gewünschten) Merkmale ihrer Eltern vereinigen.
Die Einheiten der Vererbung: Von "Elementen"...
Was die hypothetischen Einheiten der Vererbung betrifft, blieb Mendel außerordentlich vage. In seinem Originalmanuskript gibt es nur einen Satz, in dem er von "Anlagen" bzw. "Elementen" spricht.

Ansonsten verwendete er im Rahmen seiner statistischen Analyse nur Symbole ("A" für dominante, "a" für rezessive Merkmale). Mendel war als echtem Empiriker auch gar nichts daran gelegen, sich in das unübersichtliche Gelände der Spekulation zu begeben. Die Frage, ob seinen Symbolen tatsächlich auch materielle Einheiten zugrunde lägen, ließ er offen.
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... über "Biophoren" zu "Genen"
Die Interpretation seiner Pionierarbeit erledigten dann Mendels Nachfolger: Aus den "Anlagen" wurden später "Biophoren" (August Weisman), "Plastidulen" (Ernst Haeckel), "Pangene" (Hugo de Vries) und schließlich die heute gebräuchlichen "Gene" - eine Wortschöpfung, die auf das Konto des dänischen Genetikers Wilhelm Johanssen geht.
->   Mehr zur Geschichte der Genetik (Emory University)
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Mendelismus ohne Mendel
Entscheidend dabei: Als aus Mendels Arbeit zu Beginn des Jahrhunderts die wissenschaftliche Schule des Mendelismus wurde, war vom vorsichtigen Tonfall des Mönches aus Brünn nicht viel übrig geblieben.

Damals war es üblich, von "Genen für runzelige Samen" ebenso wie von "Genen für Körpergröße" zu sprechen. Im Kontext des damaligen Merkmal-Konzepts ("unit-character hypothesis") war damit implizit gesagt:

Wie die mendelnden Merkmale der Erbsen sind auch alle anderen biologischen Eigenschaften nur von einem oder sehr wenigen Genen beeinflusst. Und: Merkmale gehorchen gewissermaßen einer binären Zustandslogik, denn sie können vorhanden sein - oder eben nicht.
"Der Organismus ist eine Ansammlung von Merkmalen"
Dementsprechend formulierte etwa der britische Naturforscher und Mendelist William Bateson im Jahr 1902: "Der Organismus ist eine Ansammlung von Merkmalen. Wir können die Farbe Gelb entfernen und Grün einfügen, Größe entfernen und Kleinheit einfügen."

Eine Sichtweise, die nach Ansicht von Garland Allen bis heute in der populären Darstellung der Genetik - und sogar den Überzeugungen der Biologen selbst - enthalten sei.
Fehldeutung beeinflusst Verhaltenswissenschaft
Allens Analyse zeigt eindrücklich, wie wissenschaftliche Legendenbildung mitunter zu einer Verzerrung der historischen Tatsachen führt - und wie wenig die "Ismen" mit den Überzeugungen der längst verstorbenen Gründerväter zu tun haben.

Ein Umstand, der nicht nur Historiker interessieren dürfte: Denn schließlich sei, wie Allen hinweist, die Tendenz zur mechanistischen Verkürzung der Genetik besonders in der Humanmedizin und Verhaltenswissenschaft verbreitet.

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010