News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Islamische Gesellschaftsvisionen der Neuzeit  
  Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach untersucht der Wissenschaftler Stephan Rosiny islamische Gesellschaftsvisionen der Neuzeit. Wie Rosiny in einem Gastbeitrag für science.ORF.at schreibt, legen zeitgenössische Islamisten neuerdings Verfassungsentwürfe vor, in denen sie moderne politische Konzeptionen wie Völkerrecht, Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte "islamisieren".  
Islamische Vorstellungen einer "idealen Gesellschaft"
Von Stephan Rosiny

Der Islam wird mitunter auch als "utopische Religion" bezeichnet, weil in ihm das "Reich Gottes" als im Diesseits zu verwirklichendes Ziel präsentiert wird.

Die oberste Maxime der Gerechtigkeit könne verwirklicht werden bzw. sei in bestimmten historischen Perioden bereits verwirklicht worden, da Gott ein zu allen Zeiten und an allen Orten gültiges, absolutes Recht im Koran geoffenbart und in der vorbildlichen Lebenspraxis Muhammads, der Sunna, präsentiert habe.
...
Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Die Seminarwoche während des Europäischen Forums in Alpbach ("Continuity and Discontinuity", 14. August bis 30. August 2003) bildet alljährlich die Möglichkeit des intensiven Austausches und der Diskussion von Themen mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Stephan Rosiny hält dabei gemeinsam mit Richard Saage von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ein Seminar mit dem Titel "Utopische und islamische Gesellschaftsvisionen der Neuzeit". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Mehr über das Europäische Forum Alpbach 2003
...
Jihad: "Anstrengung auf dem Wege Gottes"
Der Jihad, fälschlicherweise häufig als "Heiliger Krieg" übersetzt, bezeichnet die "Anstrengung auf dem Wege Gottes", d.h. das Bemühen, dieses göttliche Gesetz als gesellschaftliche und politische Ordnung durchzusetzen und zu verbreiten.
Methoden - von friedlich bis kriegerisch
Die Methoden hierfür sind vielfältig und vom jeweiligen historischen Kontext abhängig. Sie reichen von der anfänglich friedlichen Mission (Da'wa) des Propheten Muhammad in seiner Heimatstadt Mekka über den Auszug der frühislamischen Gemeinde (Hijra) nach Medina bis zur kriegerischen (Rück-)Eroberung Mekkas für den Islam.
Zweireich-Lehre: Friedliches Miteinander
Nach dem Tode Muhammads etablierte sich eine Zweireiche-Lehre, nach der im "Bereich des Islam" (Dar al-Islam) die Muslime (und Angehörige monotheistischer Religionen) in Frieden leben sollen, während man sich mit dem Außenbereich des Dar al-Harb (Bereich des Krieges) im Kriegszustand befinde.

Der Stillstand der muslimischen Eroberungen und militärische Rückschläge, der Zerfall des islamischen Großreichs in verschiedene Kalifate und Fürstentümer, schließlich der westliche Kolonialismus und die Zerstückelung des Dar al-Islam in zahlreiche Nationalstaaten ließen die Vorstellung eines einheitlichen islamischen Territoriums zunehmend zur Fiktion werden.
Heute: Klassische Konzeption ohne Relevanz
Die weltweite Migration von Muslimen und die Prozesse der Globalisierung in Wirtschaft, Transportwesen und Kommunikation verstärken heute diese Fragmentation der islamischen Gemeinde (Umma), so dass die klassische, territoriale Konzeption des Dar al-Islam praktisch keine Relevanz mehr hat.

Die Globalisierung wurde zunächst als Instrument des westlichen Imperialismus ab-gelehnte. In einzelnen Überlegungen zeitgenössischer Muslime wird sie inzwischen aber als Chance gewertet, die eine grenzenlose, globale Mission (Da'wa) für den Islam und damit die utopische Vision eines "islamischen" Weltreichs eröffne.
"Islamisierung" moderner politischer Konzepte
In gewisser Weise in Anpassung an die westliche Moderne legen zeitgenössische Islamisten neuerdings Verfassungsentwürfe und islamische Verfassungen vor, in denen sie moderne politische Konzeptionen wie Konstitutionalismus, Völkerrecht, Demokratie, Gewaltenteilung, Parteienpluralismus, Parlamentarismus und Menschenrechte "islamisieren", d.h. entweder als originär islamische Konzeptionen "wiederentdecken" oder selektiv in manchen Bereichen eine Synthese westlicher und islamischer Vorstellungen erproben.
Beispiel: Hizb Allah im Libanon
Die Hizb Allah im Libanon kann als ein Beispiel für einen solchen Versuch der Anpassung islamistisch-utopischer Visionen an gesellschaftliche und politische Realitäten präsentiert werden.

In ihrer konstitutiven Phase Anfang bis Mitte der 1980er Jahre verstand sie sich noch als Avantgarde einer weltweiten Islamischen Revolution "der Entrechteten", näherte sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte jedoch schrittweise pragmatischeren Vorhaben und Gesellschaftsentwürfen für den Libanon an.

Heute stellt sie die zahlenmäßig stärkste Parlamentariergruppe, und ihre Politik wird auch von Nichtschiiten und Säkularisten als sachbezogen, professionell und unkorrumpiert gelobt.
...

Über den Autor: Stephan Rosiny
Stephan Rosiny, geb. 1962, Studium der Politikwissenschaften, Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Frankfurt a.M., 1997-1998 Fellow des Arbeitskreises "Moderne und Islam" am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 1999-2000 Postdoktorand am Graduiertenkolleg "Religion und Normativität" an der Universität Heidelberg. Seit Oktober 2000 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Islamwissenschaften an der FU Berlin.

Forschungsschwerpunkte: Der zeitgenössische schiitische Diskurs zu Religion, Politik und Gesellschaft; Begründung und Funktion religiöser Autorität unter den Bedingungen der Moderne; Islamistische Bewegungen im arabischen Raum; Friedens- und Konfliktforschung.
->   Europäisches Forum Alpbach 2003
...
Weitere Beiträge zum Forum Alpbach 2003 in science.ORF.at:
->   Shankar Venkataramani: Chaostheorie - Kleine Ursache, große Wirkung
->   Kurt Zatloukal: Anfang und Ende des individuellen menschlichen Lebens
->   Ulrich Körtner: Unbestimmtheit des Lebensanfangs
->   Johannes Pollak: Europa auf dem Weg zu einer Verfassung
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010