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Multikulturalismus in Europa und Indien  
  Europa befindet sich längst auf dem Weg zu einer komplexeren Gesellschaftsstruktur - dabei kommt es allerdings immer wieder auch zu Differenzen. Der Kulturwissenschaftler Anil Bhatti beschäftigt sich im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach mit dem Spannungsfeld zwischen Homogenisierung und Diversifikation. Als Beispiel dient ihm Indien - als komplexes mehrsprachiges, multikulturelles, multireligiöses und multiethnisches Land.  
Homogenisierung, Diversifikation. Aspekte von Kontinuitäten und Brüchen
Von Anil Bhatti

Wir erleben zurzeit gesellschaftliche Umbrüche, die sich in zweierlei Hinsicht charakterisieren: Einerseits entwickeln sich relativ homogene Gesellschaften zu komplexeren Gebilden, andererseits werden existierende komplexe Gesellschaften Spannungen ausgesetzt, die ihren Zerfall herbeiführen oder ankündigen.

Daraus ergeben sich folgende Grundfragen: Wie wird die Spannung zwischen Kontinuitäten und Brüchen im Bereich der Kultur und der Gesellschaft im Transformationsprozess gelöst? Welche Ressourcen werden darin von regionalen, sozialen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Identifikationsfeldern mobilisiert? Wie werden "emotionale Koordinaten" neuinskribiert, um komplexe Gebilde zu erhalten oder ihre Auflösung zu beschleunigen?
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Die Seminarwoche während des Europäischen Forums in Alpbach ("Continuity and Discontinuity", 14. August bis 30. August 2003) bildet alljährlich die Möglichkeit des intensiven Austausches und der Diskussion von Themen mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Anil Bhatti hält dabei gemeinsam mit Gita Dharampal-Frick von der Universität Heidelberg ein Seminar mit dem Titel "Multikulturalismus / Plurikulturalismus in Europa und Indien" (Beginn: 16. August). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Mehr über das Europäische Forum Alpbach 2003
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Indien: Multikulturell, multireligiös, multiethnisch
Indien funktioniert als komplexes mehrsprachiges, multikulturelles, multireligiöses, multiethnisches Land. Es ist durch eine Mischung aus Fortschritt und ökonomischem Rückstand innerhalb einer immer wieder gefährdeten multikulturellen Gesellschaft gekennzeichnet.

Europa dürfte bald strukturell ähnliche Komplexitätsgrade mit jedoch unterschiedlichen funktionalen Zwängen erreichen. Wie würden sich Mehrsprachigkeit, Multikulturalität, regionale Differenzen, Migration und religiöse Andersheit hier auswirken? Ist eine Einheit trotz der Diversität erreichbar?
Europa: Einheit durch Homogenisierung?
Aufgrund der europäischen Erfahrung im 19. und 20. Jahrhundert haben viele Nationalismustheorien den Homogenisierungsgedanken favorisiert. Nach Herder muss die "natürliche" Ordnung für die staatliche Organisation von Menschen eine möglichst kompakte Ordnung sein. Nur diese kompakte Ordnung ist in der Lage, Kommunikationsstrukturen für die gewollte Modernisierung zu schaffen.

Das Modell, das dahinter steckt, versteht Komplexität als Chaos bzw. Unordnung. Ordnung ist das Ziel. Die Komplexität Indiens wurde ebenfalls als Chaos empfunden. Die Beherrschung desselben erfolgte durch eine beispiellose Entfaltung klassifikatorischer und taxonomischer Energie, wodurch Indiens Diversität durch lineare Entwicklungsmodelle ersetzt und zerstört wurde.
Die Sprachideologie der Kolonialmacht
Die systematische Kodifizierung der Sprachen und Dialekte war ein wichtiges Anliegen des britischen Kolonialismus. Die Erkenntnis, dass Sprachkenntnisse für die Ausübung von Herrschaft wichtig sind, führte dazu, dass sich eine bestimmte Sprachideologie durchsetzte.

Die Pluralität von gesellschaftlicher Kommunikation wurde durch das starre lexikographische klassifikatorische Prinzip ersetzt und administrativ umsetzbar gemacht. Sprachen wurden als autonome Gebilde betrachtet und entsprechend kodifiziert. Dadurch wurden komplexe multilinguale Kommunikationswege abgewertet.
Heute: Homogenisierungszwang der Fundamentalismen
Aber es geht nicht nur um Sünden des Kolonialismus. Auch heute wird die Komplexität Indiens durch den Homogenisierungszwang moderner Fundamentalismen gefährdet. Die pluralistische Praxis des Hinduismus soll zu einem monolithischen Block geformt werden, der die anderen Religionen marginalisiert.
Gegenbild: Der Palimpsest-Gedanke
Als Gegenbild zu solchen Vorstellungen fungiert der Palimpsest-Gedanke, der Kulturen als Resultat vieler, aus dem historischen Wandel bedingter Schichtungen begreift. Dieses Bild negiert sowohl den Authentizitätsdiskurs als auch die Homogenisierungsthese.

Dieses Bild wurde sowohl von Victor Hugo als auch von Jawaharlal Nehru verwendet. Hugo begriff die große griechisch-römische Zivilisation als einen Komplex, wo Etrusker, Iberer, Slawen, und Kelten zu finden sind. Indien ist für Nehru das Resultat arischer, dravidischer mongolischer, türkischer, arabischer zivilisatorischer Beiträge.
"Ganzheit" als mehrschichtiger Prozess
Die kulturelle Brisanz des Palimpsests liegt allerdings in der Gültigkeit seiner Ganzheit, nicht irgendeiner Schicht. Das bedeutet Fülle und Reichtum. Dies kehrt sich ins Gegenteilige, wenn die progressive Schichtung als zunehmender Verlust an Authentizität aufgefasst wird.

Das "wirkliche" Indien wäre nach Nehru nicht in der Urschicht, sondern in der Ganzheit und Gleichzeitigkeit des mehrschichtigen Prozesses zu finden. Ein Gedanke, der durchaus mit Ernst Blochs philosophischer These von der "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in Europa verglichen werden kann.
Dagegen: Homogenisierung negiert Gesamtheit
Homogenisierungsversuche dagegen sind Formen der kulturellen Besitzergreifung, die Gesamtheiten negieren, um einer bestimmten Schicht Authentizität zuzusprechen.
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Beispiel: Die Moschee in Ayodhya
Der Versuch, "organische" Gemeinschaften zu konstruieren führt tendenziell zum Zusammenbruch von plurikulturellen Staaten. Identifikationsfelder werden aus Mythos, Geschichte und politischer Bewegung konstruiert. Als Beispiel dient eine dem Mogul Kaiser Babur (15.Jhdt.) geweihte Moschee in Ayodhya, dem Geburtsort des Hindu-Gottes Rama. Im 15. Jhdt. erbaut, soll die Moschee auf hinduistischen Tempelfundamenten stehen, Beweise fehlen. Hinduistische Fundamentalisten haben die Moschee aufgrund ihres religiösen Machtanspruchs zerstört.

Vom Palimpsest-Gedanken aus gesehen würde die Vermutung, dass eine Moschee auf Resten eines Tempels gebaut wurde, dem blutigen machtorientierten Gang der Geschichte zugeschrieben werden. Es käme darauf an, den Gedächtnisort Ayodhya im Sinne des Säkularismus sowohl für Hindus als auch für Moslems 'nutzbar' zu machen. Das widerspricht jedoch dem Fundamentalismus, der versucht, die Monochromie des reinen Ursprungs zu (er)finden.
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Strategien gegen den Authentizitätsdruck
Als Reaktion auf gesellschaftliche Umbruchssituationen hat man verschiedene Strategien entwickelt, die gegen den Authentizitätsdruck gerichtet sind. Eine davon will die Position des "sowohl als auch" aufwerten und das hybride Prinzip bejahen.

Nehru empfand sich Ost und West zugehörig, jedoch verspürte er in beiden Teilen der Welt das Gefühl des Exils. Auch beim holländischen Schriftsteller Cees Nooteboom findet sich Ähnliches.

In diesen urbanen Reaktionen zeigt sich jene Haltung, welche die Bereicherung durch die Entstehung neuer komplexer Kommunikationsformen und Gesellschaften betont. Daraus ist auch die Notwendigkeit der Verteidigung bereits bestehender komplexer Gesellschaften ableitbar.
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Über den Autor: Anil Bhatti
Anil Bhatti (Jg. 1944) ist Professor am Centre of German Studies der Jawaharlal Nehru University in New Delhi. Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Ludwig Maximilians-Universität, München und Promotion 1971. Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung (1975/1976 und 1982 in Bielefeld, München und Göttingen). Gastwissenschaftler und Gastprofessor an den Universitäten Göttingen, Kassel, Graz und Wien; Vorstandsmitglied des Instituts zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse, Wien. Korrespondierendes Kuratoriumsmitglied, Europäisches Forum Alpbach.

Forschungsschwerpunkte: Komparatistik und Literaturtheorie, Vergleichende kulturwissenschaftliche Studien zwischen Europa (Deutschland, Österreich) und Indien. Deutschsprachige Literatur (19.&20.Jhdt.). Aufsätze aus den Gebieten der Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Multikulturalismus, Postkolonialismus aus komparatistischer Sicht.
->   Jawaharlal Nehru University
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->   Europäisches Forum Alpbach 2003
Weitere Beiträge zum Forum Alpbach 2003 in science.ORF.at:
->   Stephan Rosiny: Islamische Gesellschaftsvisionen der Neuzeit
->   Shankar Venkataramani: Chaostheorie - Kleine Ursache, große Wirkung
->   Kurt Zatloukal: Anfang und Ende des individuellen menschlichen Lebens
->   Ulrich Körtner: Unbestimmtheit des Lebensanfangs
->   Johannes Pollak: Europa auf dem Weg zu einer Verfassung
 
 
 
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01.01.2010