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Umweltstress macht Zwitter männlich  
  "Stress macht männlich", so kann das Ergebnis einer Studie amerikanischer Biologen zusammengefasst werden. Stressgeplagte Manager dürfen jedoch nicht hoffen, dass sie ihre notorische Terminnot - gewissermaßen als Nebeneffekt - nun dem maskulinen Ideal näher bringt. Die Untersuchung betrifft nämlich nur zwittrige Meerestiere, die auf Nahrungs- oder Temperaturstress mit einer Geschlechterverschiebung reagieren.  
Damit hat man erstmals auch im Tierreich ein Phänomen nachgewiesen, das bislang nur in der Welt der Pflanzen bekannt war. Wie Roger Hughes und seine Mitarbeiter von der University of Wales in einer aktuellen Publikation berichten, gibt es für diese Reaktion auch eine evolutionsbiologische Begründung: In schlechten Zeiten ist die weibliche Fortpflanzungsstrategie für bestimmte Zwitterwesen einfach "zu teuer".
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Die Studie "Stress promotes maleness in hermaphroditic modular animals" von R. N. Hughes , P. H. Manriquez , J. D. D. Bishop , und M. T. Burrows erschien als Online-Veröffentlichung der Zeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) und wird später unter dem DOI 10.1073/pnas.1334011100 abrufbar sein.
->   PNAS
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Pflanzen und Tiere sind leicht zu unterscheiden
Pflanzen und Tiere können durch vielerlei Eigenschaften unterschieden werden. Beispielsweise durch die auto- und heterotrophe Ernährungsweise oder den typischen Generationswechsel, mit deren Details so mancher Schüler von seinen Biologie-Lehrern gequält wurde.

Weiterhin fällt auf, dass Pflanzen festsitzende Organismen sind, die nicht selten große Kolonien bilden. Ganz anders die Tiere: Sie sind frei beweglich und bleiben auch in größeren Verbänden als Individuen klar abgrenzbar.
Allerdings: Manche Tiere sehen aus wie Pflanzen
Dieses Bild der Tiere trifft zwar ganz gut für die Wirbeltiere und Insekten zu, bei unbekannteren Tierarten sieht die Sache jedoch anders aus.

Da gibt es zum Beispiel den Stamm der Kranzfühler, zu dem die so genannten Moostierchen (lat. "Bryozoa") gehören. Ihr deutscher Name ist nicht von ungefähr von den Moosen abgeleitet:

Für das ungeübte Auge können die rasenartigen Polster, flechtenartigen Krusten und verzweigten Bäumchen der festsitzenden Wassertiere wie pflanzliche Bildungen aussehen.
->   Mehr zu Moostierchen (Univ. Berkeley)
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Hermaphroditische Moostierchen-Art untersucht
Die von Roger Hughes und seinen Mitarbeitern untersuchten Moostierchen-Kolonien (Celleporella hyalina) bestehen aus eigenständigen Einheiten variablen Geschlechts. Zoologen bezeichnen solche Organismen, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsprodukte hervorbringen können, als "Hermaphroditen" bzw. als "Zwitter".
->   Mehr zu Fortpflanzungsstrategien bei Meerestieren
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Vermännlichte Pflanzen unter Stress schon lange bekannt
Auch diese Eigenschaft ist aus dem Pflanzenreich wohlbekannt. Dementsprechend hat man die evolutionsbiologischen Konsequenzen des Hermaphrodismus von botanischer Seite sehr früh unter die Lupe genommen.

Beispielsweise hat ein Freund Darwins, der britische Naturforscher John Stevens Henslow, bereits im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass einhäusige Pflanzen unter Stressbedingungen "vermännlichen".
->   Mehr zu J.S. Henslow (www.gruts.com)
Alte Beobachtungen neu interpretiert
Diese Beobachtung fand erst in neuerer Zeit ihre evolutionstheoretische Interpretation, als die so genannte sex allocation theory entwickelt wurde. Diese sagt für zweigeschlechtliche Pflanzen folgendes voraus:

Umweltbedingter Stress sollte zu einer Betonung der männlichen Funktionen führen, was konkret bedeutet: Die Pflanzen sollten eher Pollen produzieren als in die Herstellung von Samen zu investieren.
->   Die sex allocation theory bei geocities.com
Vorhersagen der Theorie auf das Tierreich angewandt
Das originelle Moment der Studie von Roger Hughes und seinem Team besteht nun darin, dass sie die Vorhersagen der (ursprünglich für Pflanzen entwickelten) Argumentation auf bestimmte Mitglieder des Tierreichs ausweiteten.

Sie setzten erbgleiche Kolonien von Celleporella hyalina einer Reihe von Stressbedingungen aus: So etwa Nahrungsmangel, Temperaturschock, physische Schädigungen oder Wachstumsbegrenzungen.
Ergebnis: Stress macht männlich
Das Ergebnis war eindeutig: Bei fast allen Stressarten verschob sich das Verhältnis zugunsten der männlichen Einheiten (sog. "Zoide"). Bei manchen (z.B. Temperatur- und Nahrungsstress) gab es überhaupt keine weiblichen Anteile mehr.
Erklärung zielt auf Energiebedarf der Geschlechter ab

Weibliche und männliche (*) Kolonie-Einheiten von Celleporella hyalina.
Die Erklärung dieses Sachverhalts im Rahmen der sex-allocation theory greift auf die unterschiedlichen Investitionen der beiden Geschlechter zurück: Die Herstellung der weiblichen Fortpflanzungsprodukte und vor allem das "Ausbrüten" der Nachkommen bedarf großer Energiereserven.

Hinzu kommt, dass dafür auch ein beträchtliches Zeitinvestment notwendig ist. Damit läuft das Tier unter Stressbedingungen Gefahr, vorzeitig zu Tode zu kommen und im Bewerb um die erfolgreichste Fortpflanzung komplett auszufallen. In dieser Situation ist die simple Strategie der Männchen - evolutionär betrachtet - einfach "billiger".

Die britischen Biologen vermuten, dass sich im Tierreich noch weitere Beispiele für diesen evolutionären Strategiewechsel finden lassen: So etwa bei dem an Stichlingen parasitierenden Bandwurm Schistocephalus solidus.
->   Homepage von Roger Hughes (Univ. of Wales)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   "Oldies but Goldies": Neue Evolutionstheorie des Alterns
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->   Medikamente aus dem Meer
 
 
 
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01.01.2010