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Evolution im Reagenzglas: Vom Ein- zum Mehrzeller  
  Eines der großen Probleme der Evolutionstheorie ist die Frage nach der Entstehung von mehrzelligen Lebewesen. Biologen aus Neuseeland haben diesen entscheidenden Schritt in der Naturgeschichte nun im Reagenzglas nachgestellt. Dabei ließen sie Bakterien in einer Nährlösung wachsen, die sich - aufgrund einer Mutation - spontan zusammenschlossen und in den Dienst der Gruppe stellten.  
Wie Katharina und Paul B. Rainey von der University of Auckland berichten, trat jedoch nach kurzer Zeit eine kritische Situation auf: Evolutionäre "Betrüger" unterwanderten die Population und führten schließlich zum Zusammenbruch der Kooperation.

Dieses "Trittbrettfahrerproblem" ist in der Theorie wohlbekannt, im Experiment hat man es bislang aber kaum nachweisen können.
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Die Studie "Evolution of cooperation and conflict in experimental bacterial populations" von Paul B. Rainey und Katrina Rainey erschien im aktuellen Wissenschaftsmagazin "Nature" (Band 425, S.72-75, Ausgabe vom 4.9.03).
->   Nature
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Evolution als großer Hürdenlauf
Die Entwicklung von den einfachsten Lebensformen bis zu komplexen Organismen, wie etwa dem Menschen, war weder geradlinig noch problemlos. Die Evolution hatte in den etwa 3,8 Milliarden Jahren ihrer Laufzeit vielmehr einige schwierige Hürden zu überspringen.

Deren Bewältigung führte schließlich zu völlig neuen Organisationsformen des Lebens. Zu diesen Schlüsselereignissen - "major transitions", wie es die Evolutionsbiologen John Maynard Smith und Eors Szathmary in einem berühmten Buch ausdrücken - zählt etwa die Entstehung der Vielzelligkeit.
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Die großen Übergänge der Evolution
Nach Maynard Smith und Szathmary können folgende Ereignisse als die entscheidenden Schritte der Evolution angesehen werden:

Die Entstehung des Lebens,
die erste eukaryotische Zelle,
die Entstehung der sexuellen Reproduktion,
das Auftreten der Vielzelligkeit,
Kooperation in Tiergesellschaften
sowie die Entstehung der menschlichen Sprache.
->   Das Buch: The Major Transitions in Evolution
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Problem: Wie entsteht Kooperation?
Diese "Knackpunkte" der Evolution wären nicht von so großem Interesse, wenn damit nicht auch theoretische Probleme verbunden wären, die geradewegs nach einer gesonderten Erklärung rufen.

So ist die Grundfrage bei der Entstehung der Vielzelligkeit folgende: Warum sollte eine Zelle ihre solitäre Lebensweise aufgeben und zu einer gemeinschaftlichen Existenz übergehen? Doch wohl nur, wenn die kooperative Lebensweise Belohnungen verspricht, die dem Einzelindividuum verschlossen bleiben.

Das mag zwar bei Mehrzellern mit spezialisierten Zelltypen der Fall sein. Geht man jedoch davon aus, dass die ersten Zusammenschlüsse von Einzelzellen noch völlig undifferenziert waren, dann stellt dieser allererste Schritt bereits ein kniffliges Problem dar.
Evolution im Reagenzglas
Mathematische Modelle zu diesem Thema gibt es zuhauf, empirische Studien hingegen kaum.

Das liegt zum einen freilich daran, dass man die Evolution nicht wiederholen kann. (Und wenn dies der Fall wäre, benötigte man dafür viele Millionen Jahre Zeit - zu lang für eine durchschnittliche Forscherkarriere). Wer jedoch genau sucht, findet unter den rezenten Lebewesen durchaus passende Modellorganismen.
Bodenbakterium als Modellorganismus
Katharina und Paul B. Rainey haben das getan: Bei dem Bakterium Pseudomonas fluorescens kann der erste Schritt auf dem Weg zum Mehrzeller elegant im Reagenzglas untersucht werden.

Ausgangspunkt ihrer Studie war die so genannte SM-Population des Bodenbakteriums. Diese ließen sie in einer Nährlösung mit einer genetischen Abart - der so genannten WS-Population -wachsen.
Genetische Abart verhielt sich kooperativ
Bild: Nature
Die Wuchsform von SM- (a) und WS-Bakterien (b)
Die WS-Zellen vermehrten sich zwar nicht so rasant wie ihre Vorläufer, waren im Konkurrenzkampf um Nährstoffe aber trotzdem erfolgreich. Das hat zwei Gründe:

Zum einen wachsen WS-Zellen in Matten an der Oberfläche des Reagenzglases, während jene aus der SM-Gruppe in der Flüssigkeit verteilt bleiben. Dies bedeutet einen unschätzbaren Vorteil, da damit die - zwangsläufig entstehenden - sauerstoffarmen Bedingungen in der Nährlösung umgangen werden können.
Der Trick: Molekularer Kleber
Zum zweiten produzieren WS-Bakterien aufgrund einer Mutation einen Überschuss eines Zellulose-artigen Polymers, das die Einzelzellen wie ein Klebstoff aneinander kettet.

Diese chemische Innovation ist also der Grund dafür, warum WS-Zellen an der begehrten Wasseroberfläche wachsen können - und SM-Bakterien eben nicht.

Nun kostet die Produktion des "Klebers" auch zusätzliche Energie - und an diesem Punkt schien das traute Miteinander der WS-Zellen zu scheitern.
Egoistische Mutanten unterwanderten Population
Nach etwa vier Tagen traten im Experiment regelmäßig evolutionäre Trittbrettfahrer auf, die zwar von der sauerstoffreichen Lebensweise profitierten, die Herstellung des Polymers jedoch den anderen überließen.

Ergebnis dieser Infiltration war, dass die Matten regelmäßig zugrunde gingen - worauf das Spiel der Neubesiedelung wieder von vorne beginnen konnte.
Theorie und Experiment in Harmonie
"Unsere Ergebnisse bestätigen in jeder Hinsicht die entscheidenden Elemente der seit langem bestehenden Theorie", schreiben die Forscher aus Neuseeland in ihrer Publikation.

In dieser wird das Trittbrettfahrerproblem im Übrigen mittels so genannter Mediatoren ("mediators") gelöst: Genetische Einheiten, die den Konflikt zwischen Individual- und Gruppeninteressen zu schlichten vermögen. Nach Ansicht der Raineys könnte auch das im Prinzip experimentell behandelt werden.

Robert Czepel, science.ORF.at
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Zum Konzept der Mediatoren kann man sich im Aufsatz "Cooperation and conflict in the evolution of multicellularity" von Richard E. Michod und Denis Roze informieren (erschienen in: Heredity 86 (2001) 1-7).
->   Zum Originalartikel
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->   University of Auckland
->   Weitere Infos zu diesem Thema im Aufsatz: "The Co-Operative Gene"
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01.01.2010