News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Österreicher suchen mit Neutronen nach verborgenen Variablen  
  In den 1930er Jahren entwickelte Albert Einstein ein Gedankenexperiment, das seiner Unzufriedenheit mit der Quantentheorie Ausdruck verleihen sollte. Darin bemängelte er, dass die physikalische Beschreibung der Atome und ihrer Teile nicht als vollständig zu bezeichnen sei. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist man imstande, Einsteins Überlegungen in konkrete Versuche zu übersetzen. Dabei lässt sich prüfen, ob die Quantenmechanik vielleicht doch zum klassischen Ideal physikalischer Theorien zurückkehren könnte. Österreichischen Forschern gelang nun die Weltneuheit, diese Prüfung mit Neutronen - anstatt wie bisher nur mit Photonen - vorzunehmen.  
Wie Helmut Rauch und sein Team vom Atominstitut der Österreichischen Universitäten berichten, wäre Einstein mit dem Ergebnis wohl nicht zufrieden gewesen: Eine Rückkehr zur Physik klassischer Prägung ist im Bereich der Atome nicht möglich.
...
Die Studie "Violation of a Bell-like inequality in single-neutron interferometry" von Yuji Hasegawa, Rudolf Loidl, Gerald Badurek, Matthias Baron und Helmut Rauch erschien im Wissenschaftsmagazin "Nature" (Band 425, S.45-48, Ausgabe vom 4.9.03).
->   Zum Originalartikel in "Nature" (kostenpflichtig)
...
Die Welt der Quanten ist anders
Die Quantentheorie erschütterte bekanntlich das bewährte wissenschaftliche Weltbild, demzufolge physikalische Gleichungen das Verhalten der Natur exakt beschreiben - und damit auch voraussagbar machen.

Nach der neuen von Niels H.D. Bohr, Werner Heisenberg u.a. zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Weltsicht ist diesem Ideal eine prinzipielle Grenze vorgeschoben: Weder können alle physikalischen Größen im Atombereich beliebig genau bestimmt werden, noch lässt sich für jeden atomaren Vorgang eine definitive Ursache angeben.

Mit anderen Worten, die Gültigkeit des kausalen Denkens, auf das gerade Wissenschaftler so viel halten, scheint im Mikrokosmos zu einem gewissen Teil außer Kraft gesetzt zu sein.
"Möchte lieber Schuster sein als Physiker"
Albert Einstein war mit diesem Abgehen vom klassischen Determinismus zeitlebens unzufrieden:

"Der Gedanke, dass ein einem Strahl ausgesetztes Elektron aus freiem Entschluss den Augenblick und die Richtung wählt, in der es fortspringen will, ist mir unerträglich. Wenn schon, dann möchte ich lieber Schuster oder gar Angestellter einer Spielbank sein als Physiker", schrieb er in einem Brief an Max Born im Jahr 1924.
Einsteins Vorwurf: Quantenmechanik ist unvollständig
Als Einstein nach Amerika emigrierte und im Spätherbst des Jahres 1933 in Princeton ankam, fand er in Boris Podolsky und Nathan Rosen zwei Gewährsmänner, die die vorherrschende Interpretation der Quantenmechanik ebenfalls unbefriedigend fanden.

Zwei Jahr später veröffentlichten die drei einen Aufsatz mit dem Titel "Kann man die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachten?"

Darin präsentierten sie ein Gedankenexperiment, das in den folgenden Jahren als Einstein-Podolsky-Rosen- (kurz: EPR-)Paradoxon in die Geschichtsschreibung einging.
Die Urversion des EPR-Paradoxons
Die Urversion des EPR-Paradoxons liest sich etwa folgendermaßen: Man nehme ein Lichtteilchen und schicke dieses durch eine halbdurchlässige Platte, worauf sich die Wellenpakete des Teilchens in zwei Teile aufspalten: einen reflektierten und einen durchgegangenen.

Es besteht daher eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, das Teilchen nun entweder in dem einen oder dem anderen Teil des Wellenpaktes zu finden. Man kann nun die beiden Teile sich beliebig voneinander entfernen lassen. (Da ein Gedankenexperiment alles erlaubt, was theoretisch möglich ist, auch tausend Kilometer oder mehr).
Spukhafte Fernwirkung?
Eine Messung, die nun feststellt, dass sich das Teilchen im reflektierten Teil des Wellenpakets befindet, bewirkt gleichzeitig, dass die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen an dem anderen Ort zu finden, abrupt auf Null absinkt.

Paradox ist nun, dass man annehmen könnte, es gebe eine Wirkung zwischen den beiden Wellenpaketen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreitet (was nach der Relativitätstheorie verboten ist).

Geht man aber davon aus, dass erst die Messung die Realität des Teilchens bestimmt, dann umgeht man die Konsequenz der paradoxen Fernwirkung. Einstein, Podolsky und Rosen jedenfalls schlossen daraus in ihrem Aufsatz, dass die Quantenmechanik eine unvollständige Theorie sei.
->   Eine moderne Version des EPR-Paradoxons (Uni Wien)
...
Verborgene Parameter als Lösung?
Um den wesentlich indeterministischen Charakter der Quantenmechanik zu umgehen, wurden vom amerikanischen Physiker David Bohm im Jahr 1952 so genannte verborgene Parameter ("hidden variables") in die Theorie eingeführt: Größen, die zwar nicht direkt beobachtbar sein sollten, jedoch das Verhalten eines physikalischen Systems exakt bestimmen.

Ein vom Physikers John S. Bell 1964 entwickelter mathematischer Formalismus ermöglichte es, die Frage nach der Existenz solcher verborgenen Parameter im Versuch zu beantworten.
...
Experiment mit Neutronen durchgeführt
"Bisher wurden solche Versuche jedoch nur mit Photonen, also elektromagnetischen Wellen gemacht", erklärt Helmut Rauch vom Wiener Atominstitut:

"Wir konnten dieses Experiment nun erstmals mit Neutronen, d.h. Teilchenwellen durchführen. Das ist insofern interessant, als Neutronen eine Masse besitzen - und man sie sich daher anschaulich eher als 'greifbare' Partikel und weniger als Welle vorstellt. Aber auch bei Neutronen kann man zeigen, dass sie sich nichtlokal verhalten, so wie es die Quantenmechanik theoretisch fordert."

Dabei bediente man sich der so genannten Neutronen-Interferometrie, eine Technologie, die zum ersten Mal im Jahr 1974 am Wiener Atominstitut entwickelt worden war. Der aktuelle Versuch wurde jedoch am Institute Laue-Langevin in Grenoble durchgeführt.
Das Resultat: Alles bleibt beim alten

Der ermittelte (einheitslose) Zahlenwert des Experiments betrug 2,051: "Eine Zahl unter 2 hätte nach den Bellschen Gleichungen bedeutet, dass sich die Neutronen klassisch verhalten" erklärt Rauch im Gespräch mit science.ORF.at.

Die Ergebnisse sprechen demnach mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,6 Prozent gegen die Existenz verborgener Variablen. Damit steht man im Einklang mit allen bisherigen Versuchen, die seit der technischen Realisierbarkeit von Einsteins Gedankenexperiment durchgeführt wurden.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Atominstitut der Österreichischen Universitäten
->   Institute Laue-Langevin
->   www.innovatives-oesterreich.at
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Quantenpurifikation: Verschränkte Teilchen in der Reinigung (21.5.03)
->   Schrödingers Katze im "Spiegel" der Quantentheorie (9.10.02)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010