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Dominoeffekt im Erbgut von Fruchtfliegen  
  Mutationen verändern bekanntlich die Erbinformation der DNA. Einem Konzept der modernen Genetik zufolge sind jedoch die einzelnen Gene einer starken Wechselwirkung ausgesetzt, weswegen die Gesamtwirkung vieler Mutationen schwer abschätzbar ist. Amerikanische Forscher konnten diesen Zusammenhang nun erstmals in Zahlen fassen: Sie untersuchten fünf Mutationen bei der Fruchtfliege, die das Geruchsvermögen des Insekts betrafen. Diese Erbänderungen breiteten ihre Folgewirkungen - gleichsam wie Wellen in einem Teich - über das gesamte Erbgut der Fliege aus.  
Wie Robert R.H. Anholt und sein Team von der North Carolina State University berichten, wurden insgesamt 530 weitere Gene in ihrer Aktivität beeinflusst. Damit gelang der erste quantitative Nachweis eines genetischen "Dominoeffekts", der das Verhalten von Tieren betrifft.
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Die Studie "The Genetic Architecture of Odor-Guided Behavior in Drosophila: Epistasis and the Transcriptome" von Robert R.H. Anholt und Mitarbeitern
erschien am 7.9.2003 in der Online-Version von "Nature Genetics" (DOI:10.1038/ng1240).
->   Nature Genetics
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Wechselwirkungen im Alltag...
Aus dem Straßenverkehr ist das Phänomen wohlbekannt: Ein Unfall an einer Kreuzung löst Staus in angrenzenden Straßenzügen aus - und kann über Umwege den Verkehr in ganz entlegenen Regionen beeinträchtigen. Denn Stadtgebiete sind eben nicht isoliert zu betrachten, sondern verhalten sich vielmehr wie kommunizierende Gefäße.
...und in der lebenden Zelle
Ganz ähnlich verhält es sich mit der lebenden Zelle. Zwar sind die einzelnen Buchstaben des genetischen Alphabets ganz ordentlich wir Perlen auf einer Schnur angeordnet.

Das bedeutet leider nicht, dass das Verhalten der einzelnen Gene sehr übersichtlich gestaltet ist. Entgegen den alten genetischen Konzepten der biologischen Pionierzeit hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, dass einzelne Gene in starker Wechselwirkung stehen. Ein Umstand, der gerne mit Netzwerkmetaphern umschrieben wird.
Verhaltensgenetik - komplizierte Angelegenheit
Ganz kompliziert ist die Angelegenheit in der Verhaltensgenetik: Denn beim tierischen Verhalten ist von vornherein klar, dass es nur durch ein Ineinandergreifen von Erbgut, Entwicklung und Umwelt realisiert wird.
->   Verhaltensgenetik: Juwelen im "biologischen Abfall"
Die Ausgangsfrage
Robert Anholt und seine Mitarbeiter haben sich nun der heroischen Aufgabe gestellt, folgende Fragen zu beantworten: Angenommen, man stört die Funktion eines verhaltensrelevanten Gens durch eine gezielte Erbänderung - was passiert mit den restlichen Genen des Erbguts? Und: Inwieweit steht das wiederum mit dem Verhalten in Zusammenhang?
Erbgut von Fliegen zufällig verändert
Um zu einer Antwort zu gelangen, verwendeten die Forscher zunächst mobile genetische Elemente, so genannte Transposons, die sie zufällig in das Erbgut der Fruchtfliege einschleusten.

Kommen solche Elemente nun in Genregionen zu liegen, dann beeinträchtigten sie naturgemäß deren Funktion. Mittels Verhaltenstests war es daher ein Leichtes, jene Genorte zu finden, die das Geruchsempfinden der Fliege störten.
Fünf Mutationen als Zwischenergebnis
Fünf dieser mit dem Kürzel "smi" (von "smell impaired") bezeichneten Regionen dienten dann als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen.

Durch den Vergleich von fünf Inzuchtlinien, die diese smi-Mutationen trugen, konnten die Forscher nun abschätzen, inwieweit die Mutationen auch das restliche Erbgut beeinflussten.
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Untersuchung auf Transkriptom-Ebene
Dabei behalfen sie sich mit einem Trick: Sie betrachteten nämlich das Erbgut nicht auf der Ebene der chemisch passiven DNA(landläufig "Genom" genannt), sondern visierten die in ihre aktive Form übersetzten Gene an (kurz "Transkriptom" genannt).
->   Mehr zu diesem Thema
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Dominoeffekt: 530 weitere Gene beeinflusst
Durch den statistischen Vergleich der jeweiligen Transkriptome wurden nun die Folgewirkungen der smi-Mutationen ans Licht gebracht. Das Ergebnis: Die Aktivität 530 weiterer Gene mit allen erdenklichen biochemischen Aufgaben wurde verändert.

Anholt und seine Mitarbeiter sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Ripple Effect", was sinngemäß am ehesten durch Schneeball- oder Dominoeffekt zu übersetzen ist.
"Wie Wellen in einem Teich"
Ferner konnten sie zeigen, dass diese Wirkungen durchaus geschlechtsspezifisch sind: Bei männlichen Fruchtfliegen wurden 340, bei weiblichen Fliegen 326 Gene zusätzlich aktiviert.

Dies lässt folgenden Schluss zu: "Wenn man ein Gen beeinträchtigt, dann beeinträchtigt man eben nicht nur ein Gen", so Anholt:

"Statt dessen ruft man einen Effekt hervor, vergleichbar mit Wellen ("ripples", Anm.), die entstehen, wenn man Steine in einen Teich wirft. Wir müssen also in Netzwerkbegriffen denken, wenn es um Verhalten geht."
Neue wirksame Methode für Verhaltensgenetiker
Anholt und seine Mitarbeiter konnten zudem mit einer neuartigen genetischen Methode ("quantitative complementation test") herausfinden, wie viele dieser Folgewirkungen nun auf der Ebene des Geruchsempfindens wiederzufinden sind. Das war bei gut zwei Drittel der 530 Gene der Fall.

Daraus lässt sich eine weitere interessante Botschaft ableiten: Wechselwirkungen auf der Verhaltensebene lassen sich ziemlich gut durch Wechselwirkungen auf der Molekülebene widerspiegeln.

Anholt und Mitarbeiter schließen daraus, dass sich ihre neue Methode gut eignet, um in großem Stil den genetischen Hintergrund von Verhalten aufzuspüren.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   North Carolina State University
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->   'Meilenstein': Entzifferung des menschlichen Erbguts
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01.01.2010