News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Petrarca: Neuinterpretation des italienischen Klassikers  
  Francesco Petrarca zählt neben Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio zu den bedeutendsten Gestalten der italienischen Literatur. Sein Werk ist umfangreich: Es reicht von leidenschaftlichen Gedichten an seine imaginäre Geliebte Laura bis zu Abhandlungen über die Bedingungen eines wahrhaft menschlichen Lebens auf den Grundlagen antiker Bildung. Ein neues Buch wendet sich nun gegen interpretatorische Allgemeinplätze der deutschsprachigen Petrarca- Forschung - und es enthält auch eine Vielzahl von bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Textstellen.  
Karl-Heinz Stierle, Professor für Romanistik an der Universität Konstanz hat die monumentale Studie über den italienischen Dichter und Philosophen vorgelegt.
...
Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14.Jahrhunderts, Hanser Verlag, ab 15. September im Buchhandel.
->   Das Buch im Hanser Verlag
...
Kein geistiger Sohn von Augustinus

Stierle verwahrt sich vor allem gegen die weit verbreitete These, Petrarca sei "ein geistiger Sohn von Augustinus". Der Kirchenvater spiele zwar eine wichtige Rolle im Denken Petrarcas - so Stierle - sein tatsächlicher Einfluss werde jedoch überschätzt.

"Vagando et cogitando" - "Gehend und denkend" wolle Petrarca die Welt entdecken und begreifen - im Gegensatz zu Augustinus, der die Quelle der Welterfahrung nur im Inneren des Menschen sah.
"Prototyp des europäischen Aufklärers"
Die Intention Stierles besteht darin, "die farbige, neugierige, erfindungsreiche und widerspruchsvolle Persönlichkeit Petrarcas wieder in Erinnerung zu rufen".

Stierle sieht Petrarca als "den Prototyp des europäischen Aufklärers": Er war Gelehrter, Dichter und Diplomat, ein intellektueller Nomade, stets auf Reisen zwischen den europäischen Machtzentren und seinem provencialischen Landsitz Vaucluse.
->   Karl-Heinz Stierle (Universität Konstanz)
Avignon: Wichtig für Petrarcas Entwicklung
Stierle betont die Bedeutung der südfranzösischen Stadt Avignon für die Entwicklung Petrarcas. In Avignon, dem damaligen Sitz der päpstlichen Kurie verbrachte der 1304 geborene Francesco Petrarca seine Jugend.

Nach seinem Studium trat er in den Dienst des Kardinals Giovanni Colonna und nützte die Gelegenheit, auf zahlreichen Reisen mit angesehenen Gelehrten und Diplomaten in Kontakt zu treten.
...
Nominalismus von Ockham
In Avignon lernte Petrarca auch die Schriften des Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham kennen. Ockham galt als Vertreter des Nominalismus, der davon ausging, dass nur das Einzelne, Individuelle wirklich ist, während das Allgemeine bloß als Name betrachtet wird. Diese Aufwertung des Individuellen, Konkreten findet sich auch bei Petrarca, der sich weigerte, die individuelle Vielfalt an ein abstraktes Prinzip preiszugeben.
->   Mehr über Ockham (philosophenlexikon.de)
...
"Hure Babylon" vs. provencialische Landidylle
Petrarcas Beziehungen zu Avignon waren ambivalent. Obwohl er von der intellektuellen Atmosphäre der Stadt geprägt war, blieben ihm die Schattenseiten nicht verborgen, die der Papstaufenthalt mit sich brachte. So kritisierte er heftig die Verschwendungssucht der Kurie und verglich sie mit der "Hure Babylon".

Als Konsequenz zog er sich auf seinen Landsitz im Vaucluse zurück. Dort ging er seinen Studien nach und verfasste mehrere Schriften, in denen er von der Einsamkeit des Landlebens schwärmte.
Sucht nach Ruhm
Stierle relativiert in seinem Buch den Mythos des einsamen Eremiten und berichtet von Petrarcas Sucht nach literarischem Ruhm. Sie fand ihren Höhepunkt in der Dichterkrönung auf dem Tribunal in Rom, die 1341 erfolgte.

"Die Auszeichnung mit dem Lorbeer" - so notierte er - "verlieh mir einen Namen und brachte mir Ruhm und Reichtum". Stierle spricht in diesem Zusammenhang von einem Musterbeispiel der Selbstinszenierung.
Sympathie für einen Rebellen
1347 erlebte Rom ein politisches Erdbeben. Der junge Notar Cola di Rienzo hatte sich gegen die adeligen Familien der Stadt gestellt und sich zum Tribun des römischen Volkes erhoben.

Petrarca begrüßte voll Begeisterung den Umsturz. Er sah in Rienzo den Retter des glorreichen Roms, den Befreier des Volkes aus der Tyrannei der Adelsfamilien.
...
Eingriff in Politik: "Große Gesten"
Stierle bezeichnet den Umgang Petrarcas mit den Mächtigen als "große Gesten", als Versuch, - ähnlich wie Voltaire oder Jean Paul Sartre - als Intellektueller direkt in die Politik einzugreifen. Eine weitere "große Geste" war seine Entscheidung, als Sekretär in den Dienst des Erzbischofs Visconti in Mailand zu treten, der für seine Expansionspolitik und Skrupellosigkeit bekannt war. Diese Entscheidung konnten viele Freunde nicht nachvollziehen.
->   Mehr über Petrarca (Uni Essen)
...
Gegen die scholastische Philosophie
Neben seiner politischen Beratertätigkeit blieb Petrarca noch genügend Zeit für philosophische Studien. Er wandte sich gegen die zeitgenössische scholastische Philosophie, die sich auf logische Schlüsse und dialektische Spitzfindigkeiten bezieht.

Er verstand die Philosophie als Anleitung zu einem offenen, experimentierfreudigen Leben, das sich selbst immer wieder in Frage stellt. Diese produktive Unruhe war der Antriebsmotor von Petrarcas Existenz, die am 18. Juli 1374 ihr Ende fand.

Ein Beitrag von Nikolaus Halmer für die Ö1-Dimensionen vom 15. September 2003
->   Radio Österreich 1
->   Sonette von Petrarca
->   Petrarca als "Urahn der Bergsteiger" (ORF.at)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010