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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Kontaminierung gefährdet ganzen Wissenschaftszweig  
  In der Krebsforschung, Mikrobiologie und vielen anderen Disziplinen der Lebenswissenschaften gehört die Arbeit mit Zellkulturen zum täglichen Brot. Fachleute warnen nun, dass mindestens zwanzig Prozent solcher Forschungen irrelevant sein könnten. Das Problem: Oftmals überwachsen fremdartige Zellen die Kulturen in den Labors, ohne dass dies den Forschern bewusst wird. Die in Versuchen erzielten Resultate werden dadurch naturgemäß unbrauchbar.  
Kritiker orten in diesem Zusammenhang nicht nur ein biologisches Problem, sondern auch massive Realitätsverweigerung seitens der Herausgeber von Zeitschriften. Dies um so mehr, als das Phänomen seit fast vier Jahrzehnten bekannt ist.
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Der Artikel "Impostor cells are wrecking research" von Andy Coghlan erschien in der Zeitschrift "New Scientist" (Ausgabe vom 20.9.2003, S.8-9).
->   New Scientist
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Zellkulturen aus Forschung nicht wegzudenken
Zellkulturen sind aus der täglichen Forschungsarbeit in Biologie und Medizin nicht wegzudenken: Denn während sich viele Untersuchungen an Tieren und Menschen aus naheliegenden ethischen Gründen von selbst verbieten, fallen solche Bedenken bei Zellen im Reagenzglas weg.

Zudem haben kultivierte Zellen den enormen Vorteil, dass sie leicht reproduzierbare Ergebnisse auf molekularem Untersuchungsniveau ermöglichen.
->   Mehr zur Geschichte der Zellkultivierung
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Meilenstein: Herstellung monoklonaler Antikörper
Der größte Meilenstein der Zellkulturforschung war vermutlich die Entwicklung von Hybridoma-Zelllinien, die zur Herstellung so genannter monoklonaler Antikörper dienen. Diese in den 1970er-Jahren vorgestellte Technik eröffnete eine Reihe völlig neuer Untersuchungsmöglichkeiten, denen man heute etwa die Einsicht in die Funktionsweise des menschlichen Immunsystems verdankt. Die Erfinder der Technik, der deutsche Zellbiologe Georges J.F. Köhler und der argentinische Biochemiker Cesar Milstein, wurden im Jahr 1984 dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
->   Mehr über monoklonale Antikörper
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Fremde Zellen kontaminieren Kulturflaschen
Nach Informationen von David Lewis von der "European Collection of Cell Cultures" (EPCC) dürfte die heile Welt der Zellkulturforschung nun gehörig ins Wanken geraten.

Wie Lewis auf einem aktuellen Kongress der britischen "Health Protection Agency" berichtete, sind viele in der Forschung verwendeten Zellkulturen kontaminiert:

Das heißt, Wissenschaftler publizieren in Fachjournalen eifrig Ergebnisse über bestimmten Zelltypen, in Wirklichkeit haben sich in ihren Kulturflaschen aber längst fremdartige Zellen breit gemacht.
->   Health Protection Agency Conference
Ein Fünftel der Forschung wertlos?
Laut einer aktuellen Studie von Rod MacLoad von der "Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen" (DMSZ) waren von rund 550 untersuchten Zelllinien 15 Prozent falsch bezeichnet bzw. mit fremdem Zellmaterial kontaminiert - und daher für die intendierten Zwecke unbrauchbar.

In anderen Schätzungen geht man davon aus, dass mindestens ein Fünftel aller Zellkultur-Experimente in Krebsforschung oder Mikrobiologie wertlos sein könnten.
->   Mehr dazu: False leukemia-lymphoma cell lines (DMSZ)
HeLa-Zellen unterwandern Kulturen - und Forschung
Ein eindrucksvolles Beispiel wird von Andy Coghlan in der aktuellen Ausgabe von "New Scientist" angeführt: Die Zellinie "KB" wurde zwischen 1998 und 2000 mehr als 300 mal in Forschungsberichten über Krebs aus dem Kopf- und Nackenbereich zitiert.

Wie sich später herausstellte, handelt es sich bei "KB" jedoch um einen völlig anderen Zelltyp, nämlich so genannte "HeLa"-Zellen, die ursprünglich von einem Cervix-Karzinom abstammen.
Wahrnehmungsproblem bei Forschern
David Lewis ortet in diesem Zusammenhang auch ein Wahrnehmungsproblem seitens der Forscher: "Wenn Personen drei Jahre mit Arbeit an der falschen Zelllinie verbracht haben, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie anderen davon erzählen werden", so der Experte gegenüber "New Scientist".

Allerdings ist das Problem schon seit längerer Zeit bekannt. Die erwähnten HeLa-Zellen kamen bereits im Jahr 1967 in Verruf, als erstmals ruchbar wurde, dass sie häufig andere Zellkulturen überwachsen.
Wo "Prostatazellen" draufsteht, sind diese nicht immer drin
Mittlerweile kennt man eine Reihe anderer Zelltypen, die ähnliches tun. Etwa die "T24"-Linie, die von Krebszellen der Blase abstammt. Wie Adrie van Bokhoven von der University of Colorado vor zwei Jahren in einer Studie feststellte, überwuchert T24 gewisse Zelllinien, die von Prostata-Krebsgeweben abstammen.

Trotz allem gebe es auch heute noch Publikationen, die diese Linien als von Prostata abstammend klassifizieren, moniert van Brokhoven gegenüber "New Scientist."
Verleugnungs-Syndrom bei Herausgebern?
An dieser Stelle appellieren Experten an die Herausgeber von Fachjournalen, dass Forscher bei Publikation ihrer Ergebnisse auch einen Nachweis der Authentizität ihrer Zellkulturen abliefern sollten.

Doch offensichtlich übt man sich seitens der Herausgeber eher in Vogel Strauß-Politik - und belässt alles beim Alten. Der Direktor des DMSZ, Hans Drexler, hat für diese Tendenz zur Realitätsverweigerung sogar einen eigenen Begriff geprägt: Er spricht von einem "false cell-line denial syndrome".

Robert Czepel, science.ORF.at
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Zum Weiterlesen
Drexlers Begriff "false cell-line denial syndrome" kommt sogar in einer offiziellen Publikation vor. Siehe hierzu "DNA profiling and cytogenetic analysis of cell line WSU-CLL reveal cross-contamination with cell line REH (pre B-ALL)" in der Zeitschrift Leukemia (Band 16, Nr.9, S. 1868-70).
->   Zum Originalartikel
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->   European Collection of Cell Cultures
->   Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen
Mehr zu diesem Themenbereich in science.ORF.at
->   Elemente 116 und 118: Entdeckung zurückgezogen
->   Medizinische Irrtümer
->   Forschungsfälschungen: So alt wie die Wissenschaft
 
 
 
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01.01.2010