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Anlage oder Umwelt? Alte Debatte im neuen Licht  
  Was prägt den Menschen: "Nature" oder "Nurture"? Seine Erbanlagen oder seine Umwelt? Natürlich beides. Die Debatte ist schon hundert Mal für tot erklärt worden - und lebt doch munter weiter. Nach wie vor springen sich Wissenschaftler gegenseitig an die Gurgel, weil es dabei um sehr viel mehr als nur um Wissenschaft geht.  
Was macht uns zu dem, was wir sind? Ist der Mensch etwa "von Natur aus" selbstsüchtig, aggressiv und ehrgeizig, wie Thomas Hobbes behauptete?

Oder ist es die Gesellschaft mit ihren Verlockungen, die den ursprünglich sanften und guten Menschen zum eitlen Egomanen mutieren lässt, wie Jean-Jacques Rousseau postulierte? "Nature versus nurture", wie es so eingängig im Englischen heißt. Natur oder Kultur? Innen oder außen?
Zwei Schlüsselwerke der Debatte
Im 20. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Verhaltensforschung, vor allem aber der Genetik, wurde die biologische Basis aller Lebewesen betont. Demgegenüber verwiesen Ethnologen, Soziologen und Psychologen auf die prägenden Kräfte der Erziehung und die Lernfähigkeit des Menschen.

In den Siebzigerjahren erreichte diese Debatte mit dem Aufkommen des Neodarwinismus ihren Höhepunkt. Zwei Werke, Edward O. Wilsons "Sociobiology" (1975) und Richard Dawkins' "The Selfish Gene" (1976, deutsch: Das egoistische Gen), erwiesen sich dabei als außerordentlich wirkungsmächtig - und höchst kontroversiell.
Standardvorwürfe: Reduktionsimus und Determinsmus
Die selbst ernannten "Radical Scientists" um den linken Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould witterten eine handfeste Gefahr, der es entgegenzutreten galt: Der Mensch sei keine von biologischen Mechanismen gesteuerte Maschine, kein wehrloses Produkt einer genetischen Auslese.

Wilson wurde bei Vorträgen von Spritzpistolen-Attentätern "erschossen". Mit den Begriffsknüppeln "Reduktionismus" und "Determinismus" wurde auf ihn und Dawkins eingeprügelt.

Mitunter wurden sie gar als Rassisten beschimpft: Ihre Theorien würden geradewegs zur Eugenik führen, schon Darwins Theorien seien von Hitler missbraucht worden. In der Tat wurden die neodarwinistischen Theorien gerne von rechtsgerichteten Gruppierungen in deren Sinne "adaptiert".
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Kritik an der Kritik: "Das unbeschriebene Blatt"
Zum Kritiker dieser Kritiker hat sich nun Steven Pinker aufgeschwungen. Die Vorwürfe gegen Wilson und Dawkins waren in der Regel überzogen oder schlicht falsch, führt Pinker in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch aus. Nun schießt er zurück: Mit missionarischem Eifer nennt der US-Psychologe unzählige Ethnologen, Sozialwissenschaftler und Feministinnen beim Namen, die seiner Ansicht nach den Menschen nach wie vor als "unbeschriebenes Blatt" oder als "edlen Wilden" charakterisieren. Biologen wie Gould, aber auch Politiker verschiedener Lager werden als Leugner der menschlichen (also biologischen) Natur gebrandmarkt, als im besten Falle wohlmeinende, letztlich aber realitätsferne Idealisten.
->   Homepage von Steven Pinker (Harvard University)
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Genomforschung beeinflusst öffentliche Meinung

Der Bestsellerautor Pinker verfasst einen 700-seitigen Steckbrief - und baut doch nur Strohmänner auf.

In der Öffentlichkeit ist das Pendel längst von der "Umwelt" Richtung "Natur" zurückgeschwungen durch immer neue Meldungen über die Erforschung des menschlichen Genoms und die Identifikation einzelner Gene, die vermeintlich für Homosexualität oder Schizophrenie verantwortlich sind.

Wer glaubt heute noch daran, dass Menschen ganz und gar formbar sind?
Extrempositionen sind ausgestorben
In Pinkers Generalabrechnung geht unter, dass die meisten Wissenschaftler die Nature-Nurture-Kontroverse für gleichermaßen unfruchtbar wie abgeschlossen halten (übrigens denkt Pinker selbst so). Extrempositionen im Sinne von "alles biologisch" oder "alles Erfahrung" finden sich kaum mehr.
Warum die Debatte nicht totzukriegen ist
Warum aber ist diese Debatte nicht totzukriegen und flammt stets aufs Neue auf?

Die Frage, was uns Menschen ausmacht, ist kulturell aufgeladen und treibt folglich nicht nur die Wissenschaft um. Weltanschauliche, religiöse und gesellschaftliche Positionen und Wertvorstellungen berufen sich auf die ein oder andere Position oder definieren sich gerade im Widerspruch zu diesen.

Die Kontroverse wurde von Beginn an nicht nur in akademischen Zirkeln, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen. Ihre Ergebnisse, oder vielmehr ihre Zwischenresultate, wurden häufig zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen herangezogen.

Die Polarität der Positionen ist eine Steilvorlage für die Medien, die mit zwei einfachen Schlagwörtern und einem scheinbar eindeutigen Gegensatz ihr Publikum erreichen können. Nature und Nurture sind Etiketten geworden, die sich allzu leicht aufkleben lassen.
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Syntheseversuch: "Nature Via Nurture"
Die Lösung? Einen spannenden Syntheseversuch hat nun der britische Wissenschaftsjournalist Matt Ridley unternommen. Sein neues Buch trägt den programmatischen Titel "Nature Via Nurture". Kein Gegen-, sondern ein Miteinander wird postuliert, genauer gesagt ein Durcheinander.
->   Homepage von Matt Ridley
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Genregulation als Brücke zwischen Erbgut und Umwelt

Für bahnbrechend hält Ridley jene neueren Forschungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Gene aktiviert und sogar wieder deaktiviert werden. Verantwortlich für das "An-" und auch das "Ausschalten" der Gene sind winzige Abschnitte auf der DNA.

Viele - nicht alle - dieser Abschnitte reagieren auf Umwelteinflüsse. Gene sind also nicht fixe Determinanten, sondern vielmehr sensibel für Input von außen. Sie ermöglichen es den Lebewesen, flexibel zu reagieren, und sind damit perfekte Diener der Erfahrung.
Trennung ist nicht sinnvoll
So erblinden zum Beispiel Mäuse, die während einer kritischen Phase des Wachstums im Dunkeln gehalten werden. Denn es ist das Licht der Umwelt, das ein bestimmtes Gen im Gehirn der Maus "anschaltet".

Der Einfluss der Erbanlagen lässt sich nach Ridley nicht sinnvoll von Umwelteinflüssen trennen. Folglich wäre es auch unsinnig, ein bestimmtes Verhältnis anzugeben, also etwa 70 Prozent Erbanlagen und 30 Prozent Erziehung und Umwelt. Die menschliche Natur ist für Ridley also voll und ganz sowohl von den Genen als auch der Erfahrung bestimmt.

Oliver Hochadel, heureka
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Die Langfassung des Texts ist in der neuen Ausgabe von "heureka" - der Wissenschaftsbeilage des "Falter" - nachzulesen. Das aktuelle Heft erscheint am 1. Oktober 2003.
->   heureka
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01.01.2010