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Forscher in der NS-Zeit - "Hitlers willige Helfer?"  
  In Wien beschäftigte man sich mit einem lang tabuisierten Thema: dem Verhalten von Wissenschaftlern während der NS-Zeit. Lange wurde die Wissenschaft als vom NS-System benutzt dargestellt. Tatsächlich profitierten jedoch auch viele Forscher vom System.  
Entlassen und vertrieben
Geschätzte 2.000 bis 3.000 Wissenschaftler mussten Österreich und Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus verlassen. Allein zwischen März und Mai 1938 verlor die Universität Wien 264 Hochschullehrer. Sie entsprachen nicht den politischen oder so genannten rassischen Kriterien der NS-Ideologie. Das "Ausmaß der Säuberung", wie es in der NS-Terminologie hieß, schwankte nach Fakultät und nach Institut.
Ein tabuisiertes Thema
Lange Zeit gab es in Österreich unter Wissenschaftlern große Widerstände, sich mit diesem Themenbereich auseinanderzusetzen. Das Institut für Geschichte der Universität Wien veranstaltete nun ein Symposium mit dem Titel: "Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus".

Diskutiert wurden die Weitertradierung wissenschaftlicher Inhalte nach 1945, die Karrieren einzelner Wissenschaftler sowie die Wandlungen von Hochschulen und wissenschaftlichen Institutionen im Nationalsozialismus.
Wer profitierte von wem?
Nicht nur das Regime wollte Forschungsprojekte unter den Deckmantel seiner Ideologie stellen, sondern auch die Wissenschaftler versuchten ihre Ansätze der Ideologie anzupassen. Dazu meint der in Wien lehrende US-amerikanische Historiker Mitchell Ash:

¿Es gab sehr wohl Versuche, bestimmte Forschungsansätze als Komponenten der nationalsozialistischen Ideologie zu 'verkaufen' oder darzustellen - bestbekanntes Beispiel ist die deutsche Physik. Das sind allesamt, nicht wie man denkt, Versuche, eine NS-Ideologie der Wissenschaft aufzupfropfen, sondern es sind die Initiativen immer wieder von den Wissenschaftern gekommen, die versuchten, ihre eigenen Ansätze in ideologischem Gewand zur Durchsetzung zu verhelfen. Zumeist waren sie nicht sonderlich erfolgreich."
Mythos instrumentalisierter Wissenschaft?
Auch Jahrzehnte nach Ende des NS-Staates wurde versucht, die Wissenschaft als vom System benutzt darzustellen. Das stimmt nur zur Hälfte, denn auch Wissenschaftler profitierten vom System, meint Susanne Heim, Mitarbeiterin der Präsidentenkommission zur Untersuchung der ¿Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus¿. Sie erforscht die Landwirtschaftswissenschaften im Nationalsozialismus und geht davon aus, dass die Politik diesen Fächern viele Spielräume ließ.
Forschung und Politik ergänzten sich oft
Wissenschaftlicher Forschungsdrang und NS-Politik ergänzten sich oftmals, manchmal trieb die Forschung die Politik auch voran. Ein Beispiel ist der "Generalplan Ost", also die Besetzung, Unterwerfung und "Germanisierung" von Polen und Teilen der Sowjetunion.

Nicht nur die SS entwarf Pläne über ¿Umvolkung¿ und Kolonialisierung, sagt die Historikerin Szöllösi-Janze: ¿Auf der anderen Seite haben wir dort auch die Selbstmobilisierung wissenschaftlicher Experten von Demographen über Geographen, Soziologen, Städtebauern und Städterplanern, die auf diese Art und Weise tatsächlich ein Wissen zur Verfügung gestellt haben, das über die vielleicht noch relativ wagen Pläne des Regimes hinausgegangen ist. Auf die Art und Weise haben sie eine Sogwirkung in Richtung Realisierung betrieben.¿
Krieg als Karrierechance
Für Natur- und Agrarwissenschaftler zum Beispiel taten sich in den besetzten Gebieten zum einen neue Forschungsfelder auf, zum anderen neue Karrieren an den dortigen Instituten, sagt die Politologin Susanne Heim: ¿Das hat dazu geführt, dass man sich einen Großteil von wissenschaftlichen Ressourcen - sowohl von dort produziertem Wissen, als auch von wissenschaftlichen Einrichtungsgegenständen (wie Bibliotheken, wissenschaftliche Sammlungen oder Geräte) - aneignen konnte, damit gearbeitet hat und beim militärischen Rückzug der Deutschen diese Sachen auch großteils mit nach Deutschland genommen hat.
Für die Wissenschaftler selbst bedeutete das, dass sie in einer Situation, in der andere zum Kriegsdienst eingezogen wurden, weiter tätig sein konnten und mit diesen Ressourcen, die sie sich in den besetzten Gebieten angeeignet haben, praktisch ihre Nachkriegkarrieren begründen konnten.¿
->   Linkliste zur Wissenschaftsgeschichte - erstellt vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Forschung im KZ
In den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen, Ravensbrück und Auschwitz entstanden medizinische Forschungsinstitute. Die medizinische Forschung und Menschenversuche - wie Mengeles berüchtigte Zwillingsforschung oder tödliche Experimente zur Sterilisation - werden seit längerem untersucht.

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die nach dem Krieg als Max-Planck-Gesellschaft neu gegründet wurde, verlegte ihre Abteilung zur Kautschuk-Forschung nach Auschwitz. Das Regime förderte naturwissenschaftliche Projekte, von denen es sich wirtschaftliche Vorteile erhoffte - so eben auch die Kautschukforschung - man wollte von Importen unabhängig sein.

Von den Umständen der Arbeit im KZ und mit Zwangsarbeitern ließen sich viele Agrarwissenschaftler nicht abschrecken, so die Politologin Heim.
->   Mehr über das Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus¿
Vernetzung von Politik und Wissenschaft
So wie sich der NS-Staat Ergebnisse der Wissenschaft zunutze machte, so profitierten auch manche Wissenschaftler vom System. Die einseitige Sichtweise, wonach das Regime die Wissenschaft missbraucht habe, sei nicht mehr haltbar, sagt die Historikerin Margit Szöllösi-Janze.

Zwischen Wissenschaft und Politik könne man nicht so scharf trennen, meint auch Mitchell Ash vom Wiener Universitätsinstitut für Geschichte, er spricht von Vernetzung: ¿Es ist so, dass die politischen Kernprojekte des Nationalsozialismus (Beispiel: Kriegsführung im Osten oder die als 'Reinigung des Volkskörpers' bezeichnete Ermordung von Behinderten und Geisteskranken) Wissenschaftlern ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen schienen, von denen diese in der Tat profitiert haben, indem sie Forschungschancen aufgriffen".
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Die Frage nach der Moral
Die Frage nach Skrupeln oder Berufsmoral "der" Wissenschaft sei pauschal schwer zu beantworten, meint Mitchell Ash. ¿Haben Wissenschaftler im Zuge der Chancen, die ihnen der Nationalsozialismus und dessen Kernprojekte geboten haben, das 'Augenmaß verloren' und auf Kosten der Opfer des Nationalsozialismus Materialsammlung betrieben? Diese Frage muss man leider in vielen Fällen bejahen.¿
->   Institut für Geschichte an der Universität Wien
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->   Zur Debatte über die Rolle deutscher Wissenschaftler im Nationalsozialismus
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Ein Beitrag aus den "Dimensionen" von Barbara Daser,
Ö1-Wissenschaft.
 
 
 
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01.01.2010