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Trotz Europa: Österreicher bleiben "Österreicher"  
  Das Gefühl, "Österreicher zu sein", lässt sich nicht so leicht erschüttern. Der EU-Beitritt vor acht Jahren hat den Prozentsatz jener, die sich als Europäer bezeichnen, jedenfalls kaum erhöht. Die Soziologin Nadja Lamei beschreibt in einem Gastbeitrag die starke österreichische Identität - und wie sich die Loyalität zu Europa in "Bindestrich-Identitäten" ausdrückt.  
Österreichische Identität äußerst stark
Von Nadja Lamei

Es wurde ja schon oft behauptet, die Österreicher hätten einen Hang zur Beschwörung des Status quo, so etwa der Meinungsforscher Rudolf Bretschneider 1999. Dass radikale gesellschaftliche Wandlungen vonstatten gehen, ist jedoch gerade ein Zeichen der Zeit.

Die soziale Identität der ÖsterreicherInnen scheint demgegenüber sehr stabil: Sie fühlen sich nach wie vor ihrer Nation zugehörig. Und, wenn überhaupt, dann erst an zweiter Stelle als EuropäerInnen.
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Europäische und nationale Identitäten als Spezialfälle sozialer Identität
Soziale Identitäten folgen zwei kognitions-psychologischen Grunderfordernissen: erstens der Komplexitätsreduktion - anstelle von Einzelheiten über die soziale Welt werden Dichotomien wahrgenommen (z. B. "wir-sie", "drinnen-draußen") - und zweitens dem sozialen Vergleich - wie stehen "wir" im Vergleich zu "den anderen" da?

Es geht also um eine Positionierung des eigenen Selbst und der eigenen Gruppe, kurz um die Schaffung von positiven Identitäten. Im Fall von nationaler und europäischer Identität sind die Ebenen des sozialen Vergleichs, also wer als zugehörig zum eigenen Bezugskreis und wer als außerhalb stehend gilt, über die Nation bzw. über die Europäische Union definiert.
->   Mehr zur Theorie der sozialen Identität Tajfel (Australian National University)
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1994: Wahlkampfthema Identität - heißer gekocht ...
Anlässlich der Volksabstimmung über Österreichs Beitritt zur Europäischen Union im Juni 1994 wurde dem Thema "Identität" viel Aufmerksamkeit zuteil. Erinnern Sie sich etwa noch an die Slogans, die eine Stärkung der österreichischen Identität durch eine europäische Komponente in Aussicht stellten?

Die Wiener SPÖ versprach beispielsweise "Wiener(in) bleiben, Europäer(in) werden" und die ÖVP "Wir sind Europäer. Österreicher bleiben wir." Umgekehrt diente die Sorge um die österreichische Identität - das österreichische Selbstverständnis würden in der EU verloren gehen - als vielfach strapaziertes Argument gegen einen Beitritt.
... als gegessen: Identität praktisch unverändert!
Die tatsächlichen Veränderungen der Identität der ÖsterreicherInnen seit dem Beitritt zur EU waren jedoch minimal. Der Grad der Identifikation der ÖsterreicherInnen mit der EU ist von der Dauer der tatsächlichen Mitgliedschaft relativ unbeeinflusst geblieben, ebenso der Anteil jener, die sich nur mit Österreich oder mit beiden Kollektiven identifizieren.

Als Indikator für die Identitätsentwicklung kann das Antwortverhalten der ÖsterreicherInnen auf folgende Frage herangezogen werden: "In der nahen Zukunft, sehen Sie sich da nur als ÖsterreicherIn, als ÖsterreicherIn und EuropäerIn, als EuropäerIn und ÖsterreicherIn, nur als EuropäerIn?"

Diese Frage wird in den Eurobarometer-Umfragen im Auftrag der Europäischen Kommission halbjährlich einer Stichprobe von 1.000 Personen in Österreich gestellt.
->   Public Opinion Analysis, Europäische Kommission
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Theoretische Grundlagen I: Multiple Identitäten
Die Vorstellung eines einheitlichen, stabilen Selbst gilt bestenfalls für den vormodernen Menschen, nicht aber in einer arbeitsteiligen, hoch spezialisierten und differenzierten Welt - so bereits der Soziologe Georg Simmel 1908.

Je nach aktuellem sozialem Kontext bestimmt eine andere Identität das Handeln. Es ist die Rede von der Kreuzung sozialer Kreise bzw. in der neueren Soziologie und Sozialpsychologie von so genannten multiplen Identitäten, so Heinz-Günter Vester. Das Individuum gehört mehreren Bezugsgruppen zugleich an: von der unmittelbarsten Einheit (z. B. Familie oder Partnerschaftsbeziehung) über nächstgrößere (etwa Sportverein, oder Freundeskreis) bis hin zu Gruppen, die nicht mehr durch unmittelbaren face-to-face-Kontakt gekennzeichnet sind (die Nation, die EU, die "westliche Welt"). Die emotionale Verbundenheit mit diesen Gruppen konstituiert mehrere voneinander abhängige Ebenen von Identität.
->   Georg Simmel online
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1995-2003: Zuallererst ÖsterreicherInnen
Kurz gesagt war und ist das Gefühl, ÖsterreicherIn zu sein, bestimmend für die kollektive Selbstdefinition der meisten BürgerInnen. Meinten im Herbst 1995 50 Prozent der mittels Eurobarometer Befragten, sie würden sich auch in Zukunft nur als ÖsterreicherInnen sehen, so waren es im Frühjahr 2003 (51 Prozent) gleich viele.

Im europäischen Vergleich ist die nationale Identität in Österreich auch deutlich stärker ausgeprägt als im EU-15-Schnitt (Wert für 2003: 40 Prozent).
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Theoretische Grundlagen II: Bindestrich-Identitäten
Waldemar Lilli wies 1998 darauf hin, dass aufgrund der Bestrebungen der nationalen Gesellschaften, auch innerhalb der EU ihre Eigenarten zu wahren, ausschließlich doppelte Loyalitäten bzw. Bindestrich-Loyalitäten möglich wären. Eine europäische Identität habe keine Chance auf Verwirklichung, wenn sie in Konkurrenz zu den existierenden Identitäten tritt und diese zu ersetzen beabsichtigt.
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Wenn europäische Identität, dann ergänzend
Nur als EuropäerInnen definierte sich im genannten Zeitraum eine Minderheit von zwischen zwei und vier Prozent der Befragten. Diejenigen, die sich gleichzeitig mit Österreich und Europa verbunden fühlt, machen je nach Befragungszeitpunkt immerhin zwischen ca. 40 bis 55 Prozent der Befragten aus. Das belegt die Existenz geteilter (also österreichisch-europäische) Identitäten.

Jedoch dominiert auch bei derartigen Identitätskombinationen die österreichische Identität: Die allermeisten sehen sich zuerst als ÖsterreicherInnen und dann erst als EuropäerInnen. Fazit: Die EU-Mitgliedschaft hat das Gefühl der Zugehörigkeit zur EU fallweise neben die Zugehörigkeit zur Nation treten lassen, hat diese aber noch lange nicht ein- geschweige denn überholt.
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Zur Autorin und zur Publikation
Bei dem Text handelt es sich um eine Kurzversion des Artikels "Europäische Integration und europäische Identität - Theoretische Konzepte - empirische Ergebnisse für Österreich" von Nadja Lamei aus der aktuellen Ausgabe der "SWS-Rundschau", die Ende Dezember 2003 erscheint.

Nadja Lamei ist Soziologin, arbeitet bei Statistik Austria und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Bereichen Sozialstatistik, politische Soziologie und Methodik der Sozialforschung.
->   SWS-Rundschau
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Ruth Wodak: Der schwierige Weg zu einer Europa-Identität (7.3.02)
->   Österreicher oder Europäer? Eine Frage der Identität (5.12.01)
 
 
 
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01.01.2010