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Der Schatten als Erweiterung des Körpers  
  Der eigene Schatten wird - zumindest bei bewussten Nachdenken - wohl für die meisten Menschen keinen echten Teil des Körpers darstellen. Doch unser Gehirn sieht das offenbar anders, wie zwei italienische Neurowissenschaftler herausgefunden haben: Sie untersuchten, wie sich der Schatten auf die Verarbeitung von Reizen auswirkt - und stellten dabei fest, dass jenes immaterielle Phänomen sehr wohl Auswirkungen auf die menschliche Sinnesverarbeitung hat. Der Schatten wird demnach als eine Art Erweiterung des Körpers wahrgenommen.  
Francesco Paviani und Umberto Castiello vom Dipartimento di Scienze della Cognizione e della Formazione (DiSCoF) der Universität in Rovereto haben die Rolle des Schattens in der Körperwahrnehmung untersucht - mithilfe einer relativ simplen Versuchsanordnung.
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Der Artikel "Binding personal and extrapersonal space through body shadows" ist als Online-Vorabpublikation am 14. Dezember 2003 in "Nature Neuroscience" erschienen (doi: 10.1038/nn1167).
->   Original-Abstract in "Nature Neuroscience"
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Komplexe Wahrnehmung für ein Bild der Welt
Die menschliche Wahrnehmung ist eine recht komplexe Angelegenheit: Objekte, Sachverhalte oder Geschehnisse müssen erkannt und eingeordnet werden, um eine Art Bild der Welt zu ergeben - zentral bei dieser "Verrechnung" ist natürlich das Gehirn, unterstützt von den diversen Sinnen bzw. Sinnesorganen.
Unbewusstes Körperschema: Das Ich und die Umwelt
Entscheidend ist dabei für den Menschen auch das Bewusstsein des eigenen Körpers, von Neurowissenschaftlern als "Körperschema" bezeichnet. Der Begriff umfasst in etwa die mentale Vorstellung vom eigenen Körper - seine einzelnen Bestandteile ebenso wie die Abgrenzung von der Umwelt.

Dieses Körperschema funktioniert überwiegend unbewusst, dient aber beständig als extrem wichtige Bezugsgröße für den Organismus. Wie stark ausgeprägt jene Vorstellung ist, zeigen beispielsweise Amputationen - es dauert häufig sehr lange, bis die Wahrnehmung der längst entfernten Körperteile schwindet.
Welche Rolle spielt der eigene Schatten?
Die Neurowissenschaftler Francesco Paviani und Umberto Castiello haben sich nun angesehen, ob und wie der eigene Schatten die Wahrnehmung beeinflusst - und gelangten zu erstaunlichen Ergebnissen.

Die beiden Forscher untersuchten zehn gesunde Probanden mithilfe einer recht einfachen Versuchsanordnung:

Die Teilnehmer sollten einen Punkt auf der Tischplatte vor ihnen fixieren und dabei beide Hände nach vorne strecken. Daumen und Zeigefinger waren jeweils ausgestreckt, während die restlichen Finger eingeklappt wurden.
Elektromagnetismus sorgt für Berührungsreize
 
Bild: Nature Neuroscience

Drei unterschiedliche Versuchsanordnungen

An den vier ausgestreckten Fingern hatten die Forscher elektromagnetische Stimulatoren angebracht, die während der einzelnen Versuche für über den Tastsinn wahrnehmbare Reize sorgten.

Unabhängig von rechter oder linker Hand sollten die Probanden in einer ersten Versuchsreihe zunächst (via Betätigung eines Fußpedals) angeben, ob jeweils Zeigefinger oder Daumen stimuliert worden waren bzw. an welchem Finger sie eine Berührung wahrgenommen hatten.
Lichtpunkte verwirren die Probanden
Danach wurde das Experiment schon schwieriger - denn zusätzlich zu den elektromagnetischen Reizen ließen die Forscher kleine Lichter aufblinken, welche die Versuchsteilnehmer ausdrücklich ignorieren sollten.

Die Lichtpunkte (als rote Punkt in der Abbildung oben dargestellt) erschienen - aus Sicht der Probanden - relativ nahe bei einem der vier ausgestreckten Finger.

Erfolgten haptischer und visueller Reiz am bzw. neben dem gleichen Finger, so reagierten die Probanden relativ schnell - und ordneten die Berührung überwiegend dem richtigen Finger zu. Blitzte der Lichtpunkt allerdings neben dem "falschen" Finger auf, reagierten die Versuchsteilnehmer deutlich verzögert.
Zeitverzögert dank widersprüchlicher Information
Soweit sind die Ergebnisse nicht einmal überraschend - denn schließlich mussten hier offenbar widersprüchliche Informationen, die von unterschiedlichen Sinnesreizen herrührten, verarbeitet werden.
Weiter entfernte Punkte: Keine Verzögerung
In weiteren Tests wurden nun aber die Lichtpunkt auf vom Körper deutlich weiter entfernte Stellen projiziert. Die Probanden reagierten nun ohne Verzögerung - denn die Blitze wurden nicht mehr mit dem Körper in Verbindung gebracht.
Schatten als Überbrückung: Gleiche Zeitverzögerung
Das änderte sich allerdings grundlegend, wenn der Schatten der Hand im Blickfeld war - und zwar jene Stelle zwischen Hand und Lichtpunkt gleichsam überbrückte (siehe Abbildung a). Die gleiche Reaktionsverzögerung wie bei den oben beschriebenen widersprüchlichen Reizen war die Folge.
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Nur der Hand ähnelnder Schatten fungiert als "Brücke"
Weitere Experimente sollten schließlich noch klären, ob jede Art von Schatten diese Reaktionen hervorrufen könnte. Dafür trugen die Probanden spezielle Handschuhe - der auf diese Weise erzeugte Schatten ähnelte in keiner Weise mehr einer Hand (siehe Abbildung b). Tatsächlich zeigten die Ergebnisse des Versuches schließlich, dass die Verbindung zum Körper damit nicht mehr hergestellt wurde. Ähnliche Resultate wurden in einem weiteren Versuch erzielt, bei dem zwar keinerlei Körperschatten zu sehen war, dafür aber eine Zeichnung den Schattenumriss der Hand darstellte (siehe Abbildung c).
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Schatten als Erweiterung des Körpers
Die Ergebnisse zeigen nach Ansicht der Forscher, dass der Schatten als eine Art Erweiterung des eigenen Körpers wahrgenommen wird. Das Körperschema könne folglich über die physische Begrenzung - die Haut - hinausgehen.

Der Schatten, so spekulieren die Neurowissenschaftler weiter, könnte zusätzliche Hinweise über die Position des Körpers in Relation zu anderen Objekten liefern - und damit die Fähigkeit zur Interaktion mit der Umgebung verbessern.
->   DiSCoF der University degli Studi di Trento
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01.01.2010