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Zum 200. Todestag von Johann Gottfried Herder  
  Johann Gottfried Herder war ein Universalist - Philosoph, Theologe, Anthropologe, Schriftsteller, Literaturkritiker und Sprachforscher. Doch die Vielfalt seiner Tätigkeiten hatte einen Mittelpunkt: Die Einheit des Menschen, "die Geschichte der menschlichen Seele überhaupt". Vor 200 Jahren, am 18. Dezember 1803 starb der in Ostpreußen geborene Philosoph im Alter von 59 Jahren in Weimar.  
Herder hat in der akademischen Philosophie den schlechten Ruf, kein Systemdenker zu sein. Er betonte das Fragmentarische, das Plurale und war bereit, sein Denken in Frage zu stellen oder auch zu korrigieren - ähnlich wie der amerikanische Philosoph Hilary Putnam.
Gegen den ''Purismus der Vernunft''
Herder bekämpfte die Philosophie des Rationalismus, die nur das reine Denken schätzt. Er wandte sich gegen den "kalten, leeren Eishimmel" der Vernunft und setzte sich für die Wertschätzung des menschlichen Leibes ein.

Die Trennung zwischen Geist und Körper wollte er aufheben - und betonte die Bedeutung der Sinnlichkeit.
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Für ein ''denkendes sensorium commune''
Herder geht in seiner Analyse der Sinnlichkeit von einem "Sinnzusammenhang", von einem "Gewebe" der Sinne aus. Die einzelnen Empfindungen sind keine abstrakten, isolierten Elemente, sondern "fließen alle in eins". Sinnliche Wahrnehmung ist niemals bloße Abbildung der Gegenstände der Außenwelt, sondern bereits eine Interpretation, die vom Denken koordiniert wird.

Darum spricht Herder von einem denkenden sensorium commune, von einem denkenden Allgemeinwesen. Einen besonderen Stellenwert im sensorium commune erhält der Tastsinn. Der Tastsinn stiftet nämlich die Beziehungen zur Außenwelt, weil er die Sinnesdaten zugleich auf den Körper bezieht und somit die Grundlage für die empirische Erfahrung des Individuums herstellt.
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''Ich fühle mich! Also bin ich!''
Die Erfahrung veranlasste Herder zu der Feststellung: "Ich fühle mich! Also bin ich!" Es ist dies wieder eine Kampfansage gegen den Rationalismus; vor allem gegen die These von Rene Descartes, der die sinnliche Wahrnehmung abwertete und die Auffassung vertrat: "Ich denke, also bin ich".
Biografie eines Unangepassten
Geboren wurde Johann Gottfried Herder als Sohn eines protestantischen Lehrers am 25. August 1744 in Mohrungen in Ostpreußen. Ab 1762 studierte er in Königsberg Theologie und hörte Vorlesungen von Immanuel Kant, der ihm die Welt der Philosophie erschloss.

Von 1765 bis 1769 war Herder als protestantischer Prediger in Riga tätig. Schon in dieser Zeit zeigte sich Herder als streitbarer Freigeist.
Lehr- und Wanderjahre
Um der für Herder bedrückenden Enge Rigas zu entfliehen, reiste er 1769 mit dem Schiff nach Frankreich, wo er Aufklärer wie Denis Diderot kennen lernte.
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"Alles war mir also zuwider. Mut und Kräfte hatte ich nicht, all diese Misssituationen zu zerstören und mich in eine andere Laufbahn hinein zu schwingen. Ich musste also reisen." Zitat entnommen aus: JGH, "Journal meiner Reise im Jahr 1769" (Reclam).
->   Textauszüge in www.gutenberg2000.de
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Freundschaft mit Goethe
In Straßburg kam es zur Begegnung mit Johann Wolfgang Goethe, die bald in ein freundschaftliches Verhältnis mündete, das später in Brüche gehen sollte. 1773 heiratete Herder Caroline Flachsland, mit der er mehrere Kinder hatte.

1776 schließlich wurde er durch die Vermittlung Goethes als Generalsuperintendent nach Weimar berufen.
Der Gelehrte als Misanthrop
Im Alter wurde Herder unleidlich - bedingt auch durch zahlreiche schmerzhafte körperliche Leiden, die ihn bis zu seinem Tod am 18.Dezember 1803 quälten. Herders Misanthropie veranlasste ihn, seinen ehemaligen Lehrer Immanuel Kant und den Jugendfreund Goethe heftig zu attackieren.

Er distanzierte sich zunehmend vom gesellschaftlichen Leben und verunsicherte seine Umgebung.
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Literarische und philosophische Produktion
"Über den Ursprung der Sprache", 1772
"Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", 1774
"Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", 1791
"Briefe zur Beförderung der Humanität", 1796
Alle genannten Werke finden sich in der kostspieligen Gesamtausgabe, die im Deutschen Klassiker Verlag erschienen ist.
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Bedeutung der Sprache
Neben der Anthropologie steht auch die Sprache im Zentrum von Herders Reflexionen. Ohne sprachliche Zeichen ist auch der Denkprozess nicht vorstellbar. "Eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land", notierte er.

Die Sprache wird vom Menschen nicht bloß passiv aufgenommen; sie ist vielmehr ein kreativer Prozess, der die Welt erschließt. Gleichzeitig verbindet ihn Sprache mit seinen Mitmenschen. Die Sprache ist also für die Entwicklung des Einzelnen als auch für die Entfaltung gesellschaftlicher Prozesse unbedingt erforderlich.
Geschichtliche Entwicklung der Sprache
Herder hat sich in seinen Schriften auch für die Geschichte der Sprache interessiert. Die Einsicht, dass auch die Sprache geschichtlich entstanden ist, findet sich zuerst in seinen "Fragmenten" von 1767. Dort vergleicht Herder die Geschichte der Sprache mit der Geschichte des Menschen: "Sie trägt Knospen, blüht auf und verblüht".
Denkraum der Besonnenheit
Die menschliche Sprache zeichnet sich im Gegensatz zur triebgesteuerten Tiersprache durch Besonnenheit aus. Im Begriff "Besonnenheit" drückt sich auch das Hauptanliegen Herders aus: Der Mensch sollte durch ein Innehalten, eine Distanzierung von impulsiv auftretenden Emotionen wie Wut, Hass und Aggression "einen Denkraum der Besonnenheit" schaffen.

Dieser "Denkraum der Besonnenheit" wäre dann die Voraussetzung für Humanität und Toleranz, für die Herder Zeit seines Lebens leidenschaftlich eintrat.

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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Mehr zu Johann Gottfried Herder erfahren Sie in der Sendung "Dimensionen" am 17. Dezember 2003 um 19.05 Uhr in Ö1.
->   Ö1
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Literaturhinweis:
Michael Zaremba, "Johann Gottfried Herder: Prediger der Humanität. Eine Biografie", erschienen im Böhlau Verlag (2002)
Friedrich Wilhelm Kantzenbach, "Johann Gottfried Herder", erschienen im Rowohlt Verlag (1970)
Jens Heise, "Johann Gottfried Herder zur Einführung", erschienen im Junius Verlag (1998)
->   www.johann-gottfried-herder.de (online ab dem 18.12.03)
->   Johann Gottfried Herder, der Klassiker im Schatten (MDR)
 
 
 
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01.01.2010