Host-Info
Birgit Sauer
Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Birgit Sauer :  Gesellschaft 
 
Wie viel Staat braucht die frauenfreundliche Zivilgesellschaft?  
  Die Begriffe Zivil- und Bürgergesellschaft werden in jüngster Zeit wie selbstverständlich verwendet. Doch wer oder was ist eigentlich die Zivil- oder Bürgergesellschaft? Und ist sie, wie viele meinen, frauenfreundlicher als ihr Gegenpart, der Staat?  
Gemeinsam ist beiden Konzepten ihre Skepsis gegenüber "dem" Staat. Protagonisten sehen Zivil- und Bürgergesellschaft als Antipoden zum Staat, als "Zwischenraum" zwischen Staat, Ökonomie und Privatheit.

Aus feministischer Sicht stellt sich die Frage, ob Zivil- bzw. Bürgergesellschaft frauenfreundlichere Optionen eröffnen als die nicht gerade sehr frauenfreundlichen Strukturen von Parteiendemokratie bzw. korporativem (Sozial-)Staat. Anders formuliert: Wie viel, oder besser, welchen Staat braucht die Zivilgesellschaft, damit sie frauenfreundlich organisiert ist und eine Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses in Gang setzen bzw. vorantreiben kann?
Zivilgesellschaft: Mehr an politischer Mitbestimmung
Doch zunächst zu den Unterschieden zwischen zivil- bzw. bürgerschaftlichen Debattensträngen, denn sie sind gravierend: Vertreter der Zivilgesellschaft, zu der sich auch viele Frauengruppen rechnen, fordern ein Mehr an politischer Mitbestimmung und gesellschaftlicher Selbstorganisation der BürgerInnen. So argumentieren beispielsweise die Wiener Publizistin Isolde Charim und der Wiener Philosoph Oliver Marchard.

Sie schlagen vor, den Begriff "Zivilgesellschaft" normativ umzudeuten und für die "außerparlamentarische Opposition" zu besetzen: Zivilgesellschaft steht dann für eine "selbstlimitierende Utopie" (Cohen/Arato) - hier die Ablösung der schwarz-blauen Regierung.
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Der Staat bleibt männlich
Mit der Staatsskepsis der Zivilgesellschaftsdebatte ist eine demokratische und gerechte - teilweise eben auch geschlechtergerechte - Utopie verknüpft. In der etatistischen, obrigkeitsstaatlichen Tradition Österreichs war Staatskritik seit der Entstehung sozialer Bewegungen ein zentraler Fokus. Sowohl der Rechtsstaat wie auch der Sozialstaat haben ihr Pendant - Demokratie nämlich - historisch nur schwach ausgebildet.

Anders ausgedrückt: Die Akteure einer rechts- und sozialstaatlichen Entwicklung legten wenig Wert auf die Herausbildung demokratischer, schon gar nicht geschlechterdemokratischer Prozeduren zur Ausgestaltung ihrer Gesetze und Institutionen. Frauenbewegungen, aber auch andere gesellschaftliche Gruppen, konnten gegen jene mit dem Staat korporierten Organisationen - beispielsweise Parteien und Agenten der Sozialpartnerschaft - ihre Ziele nur schwer in staatliche Politiken einschreiben. Der Staat war und blieb männlich.
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Den maskulinistischen Staat transformieren
Die Zivilgesellschaft könnte den patriarchalen, maskulinistischen Staat transformieren bzw. im positiven Sinne "feminisieren" und neue Räume für demokratische Mitgestaltung und Beteiligung sowie für die Realisierung einer geschlechtergerechten Gesellschaft, von Autonomie, Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit öffnen.
Bürgergesellschaft federt Krise von Staat und Ökonomie ab
Der anti-staatliche Impuls der Bürgergesellschaftsdebatte ist demgegenüber Teil einer neoliberalen Strategie, um die Krise von Staat und Ökonomie abzufedern. Mit der Etablierung einer Bürgergesellschaft soll der Rückbau sozialstaatlicher Sicherungen zugunsten der staatlichen Förderung des sich globalisierenden Kapitals gerechtfertigt werden.

Die Schäden, die durch sozialstaatliche Deregulierung und Privatisierung von sozialen Risiken (Krankheit, Altersvorsorge, Arbeitslosigkeit) entstehen, sollen durch das ehrenamtliche Engagement von BürgerInnen behoben oder zumindest gemildert werden.

Die Bürgergesellschaftsdebatte konnotiert deshalb "den Staat" und vor allem den Sozialstaat pauschal negativ: Er ersticke die Eigeninitiative der BürgerInnen, er entmündige sie und lasse sie verantwortungslos in der "sozialen Hängematte" zurück (Andreas Khol).
Der misogyne Unterton
Diese Debatte transportiert aber einen misogynen Unterton: Der "minimale" Staat wird als männliche Praxis glorifiziert, der Wohlfahrtsstaat wird demgegenüber als weiblich denunziert. Der paternalistische Überprotektionismus des Sozialstaats habe die moralischen Grundlagen der Gesellschaft zerstört und verantwortungslose, abhängige, sprich: "feminisierte" Menschen produziert.

Der "mütterliche Staat", der Wohlfahrtsstaat, diskreditiere systematisch männliche Werte wie Unabhängigkeit, Selbstverantwortung und Wettbewerb. Die Wiederherstellung von Verantwortung und Freiheit besitzt so den Subtext der Wiederherstellung traditioneller Geschlechteridentitäten und Geschlechterverhältnisse.
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Frauenpolitischer Handlungsspielraum
"Die" Zivilgesellschaft ist nun ebenso wenig wie "der" Staat per se eine frauenfreundliche Institution. Deutlich ist beispielsweise, dass das bürgerschaftliche Ehrenamt eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufweist, die Frauenarbeit gegenüber Männerarbeit tendenziell abwertet. So lässt sich vielmehr sagen: Der Staat ist ebenso misogyn und patriarchal, wie es die Zivilgesellschaft ist, und er ist in sich widersprüchlich. Dies wiederum birgt durchaus frauenpolitischen Handlungsspielraum. Mit der Abschaffung des österreichischen Frauenministeriums wurde versucht, eine solch widersprüchlich-widersprechende Institution mundtot zu machen.
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Mehr Bürgergesellschaft heißt nicht frauenfreundlichere Politik
Daraus folgt, dass eine Entgegensetzung von "Staat" versus "Zivil- bzw. Bürgergesellschaft" frauenpolitisch falsch ist und demokratiepolitisch zu kurz greift. Mehr Zivil- oder Bürgergesellschaft heißt nicht automatisch, dass der Einfluss des Staates geringer und die Gesellschaft frauenfreundlicher wird.

Viel wahrscheinlicher ist, dass gewisse Staatsinstitutionen wie beispielsweise die des sogenannten "Gewaltstaates", des disziplinierenden und strafenden Staates sogar mächtiger werden.

Der neoliberale Rückbau des Staates ist nämlich in Wirklichkeit ein Umbau staatlicher Zugriffsweisen auf die BürgerInnen. Politik und Verwaltung gewinnen dadurch sogar an Steuerungskompetenz hinzu, da ihnen keine mächtigen korporativen Akteure - wie z.B. Wohlfahrtsverbände und Krankenkassen - gegenüberstehen, sondern weil direkt und unvermittelt auf BürgerInnen zugegriffen werden kann.
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Nicht einfach "weniger Staat"
Zivilgesellschaftliche "Entstaatung" kann aus einer feministischen Perspektive nicht einfach "weniger Staat" heißen. Die Zivilgesellschaft ist nicht per se der bessere Ort, um feministische Projekte zu realisieren, vielmehr muss auch dort gegen maskulinistische Strukturen argumentiert und gehandelt werden. Wenn "Entstaatung" nicht in einem demokratischen Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Institutionen geschieht, dann ist zivil- bzw. bürgergesellschaftliche Aktivierung ein autoritäres Konzept.
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Unterstützung durch staatliche Institutionen
Damit Zivilgesellschaft leben kann, bedarf es also der Unterstützung durch bzw. der Zusammenarbeit mit spezifischen staatlichen Institutionen und Akteuren und solchen der "alten" Zivilgesellschaft wie beispielsweise die Gewerkschaften. Anders gesagt: Zivilgesellschaftliche Aktivierung muss in einen dialektischen Prozess von Transformation staatlicher Strukturen und von Veränderungen in der Ökonomie bzw. im (Erwerbs)Arbeitsbereich erfolgen.
Eine differenzierte Kritik des Staates ist gefordert
Das bedeutet auch, dass "der" Staat differenziert kritisiert werden muss. Nicht der Staat "per se" ist maskulinistisch und frauendiskriminierend, sondern ganz spezifische Teile des Staates sind dies, während andere staatliche Institutionen und Instrumente durchaus in der Lage sind, frauenfreundliche Politiken durchzusetzen.

Diese müssen zur Unterstützung für eine frauenfreundliche Gesellschaft genutzt werden. Eine der vordringlichsten Aufgaben des so ausgehandelten "Geschlechterstaats" wäre dann die Garantie eines neuen Arbeitsbegriffes, in dem Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit für beide Geschlechter gleichberechtigt möglich sind.
 
 
 
ORF ON Science :  Birgit Sauer :  Gesellschaft 
 

 
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