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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Politische Bildung: Was bringt das?  
  Neben der mühsamen Begriffsdefinition von politischer Bildungsarbeit stellt sich in Zeiten von mannigfachen Jubiläen und angesichts der laufenden Aktionstage für Politische Bildung (27.4.-15.5.05) auch die Frage nach der Effektivität.  
Mehr Faktenwissen über unsere Demokratie, die Entwicklung von eigenständigen Meinungen über Politik und soziale Kompetenz im gesellschaftlichen Alltag sind Zielsetzungen, mit denen sich alle Beteiligten zu 100 Prozent identifizieren können.
->   Politische Bildung: Was ist das? (26.4.03)
Zahlen sprechen für und ...
Wie jedoch messe ich konkret das Ausmaß der Zielverwirklichung? Der Drang nach Zahlenlogiken führt zu quantitativen Schönheitswettbewerben von Notenschlüssel über Teilnehmerstatistiken bis zu Bücherlisten zur Rechtfertigung der politischen Bildner.

Zahlen - alle Angaben stammen aus repräsentativen und öffentlich zugänglichen Meinungsumfragen 2004/05 und müssen als Tendenzwerte verstanden werden - sind geduldig, so dass man beispielsweise für Jugendliche problemlos eine Erfolgsbilanz der Politischen Bildung vorlegen könnte, weil:

- lediglich zwei Prozent mit der österreichischen Demokratie gar nicht zufrieden sind (ein Viertel ist relativ wenig zufrieden),

- eine autoritäre Führungspersönlichkeit bestenfalls einer von zehn Jugendlichen nicht vollständig ablehnt, und

- entgegen anders lautender Gerüchte wenigstens die theoretische Bereitschaft zur Wahlbeteiligung von Erst- und Jungwählern sowie 16-18-jährigen in Österreich bis zu 80 Prozent und somit einen internationalen Spitzenwert beträgt.
... gegen die Politik-Ambition von Jugendlichen
Umgekehrt wäre es gleichermaßen einfach, ein Desaster aller Bemühungen im Bereich der politischen Jugendarbeit zu belegen, weil:

- nur 30 Prozent sich für Politik interessieren und Politik für weniger als ein Fünftel der jungen Menschen einen sehr wichtigen Lebensbereich darstellt, während neben Freunden, der Familie und Freizeit immerhin auch die Arbeit bzw. die Schule das für drei Viertel ist.

- Politik anstatt zu den Top 3 zu den "Flop 3" gehört, was Jugendlichen im Leben wichtig ist, und 78 Prozent von der Politik enttäuscht sind bzw. 50 Prozent es trotz ihrer Abneigung gegenüber einem starken Mann sogar für möglich halten, dass eine Person wie Hitler wieder an die Macht kommt, oder

- zehn Jahre nach dem EU-Beitritt Österreichs 70 Prozent sich über die Europäische Politik und Wahlen in EU-ropa nicht ausreichend informiert fühlen.
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Aktionstage Politische Bildung ab 27. April
Die Aktionstage Politische Bildung finden heuer vom 27. April bis bis 15. Mai statt. Den zeitlichen Rahmen bilden zwei historische Daten: Der Jahrestag der Wiederherstellung der Republik am 27. April 1945 und jener der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955.
->   Mehr über die Aktionstage
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Drei Typen, sich zur Demokratie zu verhalten
Das Jubiläumsjahr 2005 ist übrigens bestenfalls für ein Zehntel sehr interessant. Sein Erfolg oder Misserfolg wird jedoch kaum dadurch bestimmt, ob sich die obigen Zahlen punktuell erhöhen oder verringern.

Ungeachtet der Vision einer vollkommenen Basisdemokratie bestehen komplexe Gesellschaften a) aus einer aktiven Öffentlichkeit - d.h. Systemmitgliedern, die regelmäßig und mit eigenen Vorstellungen am politischen Prozess teilnehmen (und Quelle der politischen Initiative sind) - und b) der passiven Öffentlichkeit, d.h. Systemmitglieder, die als Publikum und Wähler sporadisch an der Politik teilnehmen.

Hinzu kommen als dritte Gruppe Nichtteilnehmende, die sich vollkommen verweigern.
Genaue Zuordnung schwierig
Empirisch hat es sich als unmöglich erwiesen, anhand unterschiedlichster Formen der politischen Aktivität - die Wahlbeteiligung ist ein unzureichender Indikator, das Spektrum reicht vom Signieren von Unterschriftenlisten oder gelegentlichen Meinungsäußerungen über Mitgliedschaften in Verbänden/Parteien bis zu Demonstrationen oder der Ausübung des passiven Wahlrechts - die Größe der aktiven und passiven Öffentlichkeit in Österreich und anderswo prozentuell festzulegen bzw. Personen eindeutig dieser oder jener Gruppe zuzuordnen.
Ziele: Balance von Aktivität und Passivität ...
Jedenfalls darf eine Demokratie nicht nur über passive Systemmitglieder verfügen bzw. wäre im Gegenzug weder die Systemorganisation zu bewältigen noch könnten stabile Verhältnisse entstehen, wenn sich alle Systemmitglieder laufend als aktive Öffentlichkeit verstehen und - als polemisch-aktuelles Beispiel - jeder Bürger eine Partei gründen, in einen Volksvertretungskörper einziehen und/oder gar Teil der Regierung sein will.

Politische Bildung hat die Aufgabe, ein ausgewogenes Verhältnis von Aktivität und Passivität als Beschränkung auf Kontrollfunktionen zu ermöglichen. Die Demokratiequalität ist gefährdet, falls der wechselseitige Kommunikationsfluss zwischen aktiver und passiver Öffentlichkeit unterbrochen wird.
... und "Partizipation als echte Chance sehen"
Die Dilemmata der politischen Bildungsarbeit sind einerseits, dass Nichtteilnehmende als dritte Gruppe weder unmittelbar noch über Multiplikatoren erreicht werden, und andererseits eine fehlende Transparenz über die Tätigkeiten der aktiven Öffentlichkeit besteht.

Ziel des Jubiläumsjahres und der Aktionstage Politische Bildung darf es demzufolge nicht sein, einfach Gesamtzahlen politischer Beteiligung zu erhöhen.

Es muss sich vielmehr die Zahl jener erhöhen, die Partizipation als wirkliche Chance sehen, das Ergebnis politischer Prozesse zu beeinflussen, und nicht bloß das Gefühl haben, in irgendeiner Form dabei gewesen zu sein.

[27.4.05]
->   Europäisches Jahr der Politischen Bildung
->   Alle Beiträge von Peter Filzmaier in science.ORF.at
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Ö1-Sendungs-Hinweise
Ö1 widmet den "Aktionstagen Politische Bildung" in den nächsten Tagen eine Reihe von Sendungen:
- Schwerpunktwoche in "Wissen aktuell" (2.-6.5., 13.55-14.00 Uhr)
- Demokratie-Bildung in Europa - Herausforderung für Österreich in "Dimensionen" (3.5., 19.05 Uhr)
- Politische Bildung in der Schule im "Salzburger Nachtstudio" (11.5., 21.01 Uhr)
->   Ö1-Programm
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