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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Opferkult und Neutralität als Geschichtsmythen in Österreich  
  Niemand geringerer als Bundespräsident Heinz Fischer hat anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung der Stadt Villach auf die Problematik hingewiesen, dass Gedenken und Gedanken zu den Jahrestagen 1945 und 1955 mit zahlreichen Österreich-Legenden verknüpft sind, deren kritische Aufarbeitung mangelhaft ist. Das Beispiel des Bundespräsidenten für solche Mythen: Von 1938 bis 1945 und oft danach wurde bzw. wird erzählt, ganz Österreich hätte Adolf Hitler jubelnd auf dem Heldenplatz begrüßt.  
Zugleich bekommen wir zu hören, die Österreicher in ihrer Gesamtheit wären im März 1938 erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Es ist unmöglich, dass beide Darstellungen richtig sind.
->   Ausstellung in Villach: "60 Jahre Befreiung und 50 Jahre Staatsvertrag"
20 Prozent Ehemalige im Jahr 1949
1933 wurde die NSDAP verboten, doch gab es mit Jahresende 1937 über 100.000 illegale Mitglieder. Nach Kriegsende wurden rund 550.000 Österreicher mit NS-Vergangenheit registriert und fast 137.000 Verfahren eingeleitet.

Als 1949 ehemalige NSDAP-Mitglieder und ihre Familien erstmals wählen durften, machten sie etwa 20 Prozent der Bevölkerung aus. Die ÖVP und vor allem in Kärnten auch die SPÖ versuchten, die "Ehemaligen" für sich zu gewinnen.

Schließlich wurde von sozialistischer Seite eine eigene Partei als Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten unterstützt, um das bürgerliche Lager zu spalten. Mit Opfertum hat das wenig zu tun.
Opfermythos: Identitätsstiftend für Zweite Republik
Die Moskauer Deklaration 1943 machte Österreich dennoch formell zum ersten Opfer der Angriffspolitik Hitlers und wurde zur Basis des Leugnens einer Mitverantwortung an den Gräueltaten der Nazis.

Nicht nur gerieten unsere Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen - diese als Kriegsverbrechen zu bezeichnen, ist eine unzulässige Vereinfachung, sondern es handelte sich um "Verbrechen gegen die Menschlichkeit während eines Krieges" (Simon Wiesenthal) - und die Verpflichtung zur Wiedergutmachung für lange Zeit in Vergessenheit, sondern der Opfermythos wurde zu einem identitätsstiftenden Moment der Zweiten Republik.
Folge: Geringer Stellenwert von politischer Bildung
Hinzu kam eine praktische Komponente mit nachteiliger Langzeitwirkung. Aus dem Opfermythos abgeleitet wurden der Bestand einer lediglich von 1938 bis 1945 unterbrochenen österreichischen Kontinuität und die fehlende Notwendigkeit für eine umfassende Politik der politischen Resozialisierung.

Politische Bildung als Instrument der Resozialisierungspolitik verfügte in der späteren Bundesrepublik Deutschland über einen hohen Stellenwert, während in Österreich kein unmittelbarer Handlungsbedarf gesehen wurde.

Schon die alliierten Besatzungsmächte bestimmten, anders als in Deutschland, für die Zweite Republik in Österreich keine spezifischen Bildungsaufgaben für Geschichtsvermittlung und politische Bildungsarbeit. Für österreichische Schulen und in der Erwachsenenbildung sowie an Universitäten gab es keine geschichts- und sozialwissenschaftlichen Vorgaben, was als Demokratie vermittelt wird.
Politische Lager statt Zivilgesellschaft ...
Nach dem Staatsvertrag 1955 setzten der Staat Österreich und seine Gesellschaft diese zehnjährige Inaktivität fort.

Die politisch-weltanschaulichen Lager - d.h. nationale/nationalistische, christlich-konservative bzw. -soziale, sozialistische, kommunistische usw. Gruppen - mussten Funktionen übernommen, die in anderen Gemeinschaften durch die Zivilgesellschaft per se und/oder durch den Staat wahrgenommen werden.
... sorgten für Pflege der Geschichtsmythen
Nach dem Kriegsende und später dem Staatsvertrag übernahmen die Parteien analog zu bis 1938 ihre früheren Sozialisationsfunktionen, so dass die Politik öffentliche Mittel insbesondere für die Geschichtsvermittlung durch Parteien und kaum für außerparteiliche Programme bereitstellte.

Die 1973 gegründeten Parteiakademien stehen in der angesprochenen Kontinuität einer politischen Bildungsarbeit, die sich im Wesentlichen als Addition von sektoraler Geschichtsvermittlung versteht.

Praktische Konsequenz war eine Minimalausstattung der überparteilichen Institutionen. Inhaltlich wurden je nach der farblichen Zugehörigkeit von Agenten der politischen Sozialisation Mythen gepflegt.
Lebenslüge der Neutralität
Zum klassischen Widerspruch von Opfer- und Tätertheorie kommt im Zeitzusammenhang des Jubiläumsjahres 2005 die Lebenslüge der Neutralität in Österreich. Regelmäßig ist sogar in studentischen Prüfungsarbeiten fälschlich zu lesen, diese wäre im Staatsvertrag verankert und nicht im Moskauer Memorandum als politische Bedingung für die Unabhängigkeit mit ihm verknüpft.

Vor allem jedoch wurde die Neutralität als Symbol der politischen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte des Landes nach 1955 mythologisiert. Geschichtlich ist das fragwürdig, selbst wenn vom Ungarn-Aufstand 1956 bis zum Prager Frühling 1968 politische Bewährungsproben bestanden wurden. Eine militärische Nagelprobe blieb zum Glück aus, denn Winston Churchill wird bezeichnenderweise der Ausspruch zugeschrieben, der Erfolg der Neutralität hänge davon ab, auf welcher Seite man neutral ist.

Insbesondere im Wirtschaftsbereich ist es zudem geradezu absurd, dass für den Aufschwung seit 1955 in den Köpfen vieler Österreicher trotz klarem Bekenntnis zum westlichen Marktmodell die Neutralität verantwortlich gemacht wird.
Auch heute noch unantastbar
Obwohl nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und in EU-ropa zunehmend obsolet und durch den Begriff der differenziellen Neutralität als Hilfskonstruktion sachbezogen mühsam aufrecht erhalten, ist der Mythos unantastbar.

Je nach Umfrage liegt die Zustimmung zur Neutralität in den letzten zehn Jahren zwischen zwei Drittel bzw. im Regelfall drei Viertel und 90 Prozent.

Was im Einzelnen unter Neutralität verstanden wird, geht oft extrem auseinander, doch wurde quasi aus dem ehemaligen "Wir sind neutral!"-Eliteprojekt der Nachkriegszeit - für die meisten Österreicher war damals "Wir sind frei!" ungleich wichtiger - durch eine jahrzehntelange staatspolitische Bildungsinitiative ein zentrales Identitätsmerkmal.
Chance Gedenkjahr
Das führt zum aktuellen Luxusproblem, wie gerufene Geister loszuwerden sind. Angesichts solcher Umfragedaten grenzt es an parteipolitischen Selbstmord, eine Abschaffung der Neutralität zu fordern.

Wider besseres Wissen pflegt Österreichs Politik daher ein Mikado-Spiel, um klare Positionierungen zu vermeiden. Der Neutralität als "prominentester Untoter Österreichs" (Anton Pelinka) wird auch im Jubiläumsjahr hofiert, obwohl es auch Meinungsumfragen gab, in denen kurioserweise sowohl der neutrale Status Österreichs als auch ein NATO-Beitritt mehrheitlich befürwortet wurden.

Die Jahrestage 2005 sollten jedenfalls als Chance verstanden werden, unseren Wissenstand über berechtigte und unberechtigte Mythen zu erweitern.

[3.5.05]
->   Alle Beiträge von Peter Filzmaier in science.ORF.at
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Gedenkjahr 2005
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005". Bisher erschienen:

Aleksandr Cubarjan: Die UdSSR und Österreich in der Nachkriegszeit (27.4.05)
Christian Fleck: Österreichs Unis nach 1945 "selbstprovinzialisiert" (25.4.05)
Barbara Stelzl-Marx: "Russenkinder" zwischen Tabuisierung und Stigmatisierung (22.4.05)
Fotos und Dokumente zur "Roten Armee in Österreich" (22.4.05)
Sieglinde Rosenberger: Geschichte als Projekt mit "Open End" (15.4.05)
Otto Urban: Vor 65 Jahren "endgültige" Liquidierung Österreichs (30.3.05)
Michael John: Neo-Mythologisierung der Zeitgeschichte (18.3.05)
Materieller und geistiger Wiederaufbau Österreichs (16.3.05)
Siegfried Mattl: Beglaubigte Geschichte (9.3.05)
->   2005.orf.at
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