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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Politische Bildung: Was ist das?  
  Vom 27. April bis zum 15. Mai finden in Österreich erstmals "Aktionstage für Politische Bildung" statt. Kaum ein Begriff ist in derartiger Form der Gefahr der Verallgemeinerung und Beliebigkeit ausgesetzt. Zur Politik zählen alle Institutionen, Prozesse und themenbezogenen Inhalte für die Regelung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Bildung beinhaltet sämtliche Formen der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Kann demzufolge Politische Bildung als Kombination der Begriffe Politik und Bildung alles und nichts sein?  
1) Politische Bildung als Wissensvermittlung
Selbstverständlich geht es zunächst um die Weitergabe von Faktenwissen über Politik. Dazu zählen, jeweils auch im internationalen Vergleich, Kenntnisse über Demokratiemodelle und unsere Verfassung, über die Organisation von Parlament, Regierung und Justiz sowie deren wechselseitige Macht und Kontrolle, aber auch über Parteien, Wahlen, Massenmedien usw.

Hinzu kommt das Wissen über Grund- und Menschenrechte und über zeitgeschichtliche Entwicklungen.
Entscheidungen jenseits der Öffentlichkeit
Gesetzgebung und politische Entscheidungsprozesse müssen sowohl in ihrem formalen Ablauf bekannt sein als auch bedarf es eines Verständnisses der realpolitischen Zusammenhänge.

Gesetze werden mittels Abstimmungen im Plenum des Parlaments beschlossen, politisch aber anderswo im (vor-)parlamentarischen Raum entschieden. Dazu zählen Parteiabsprachen, die Einflussnahme von Interessenvertretungen oder Verhandlungen mit den Sozialpartnern, aber auch die mediale Inszenierung von Politik.

Die breite Öffentlichkeit weiß darüber oft ebenso wenig wie über Referentenentwürfe in Ministerien, den Ministerrat durchlaufende Regierungsvorlagen und die Beschlussvorbereitung in nicht öffentlichen Ausschusssitzungen, bevor es im Plenum des Parlaments zu sprachlichen Scheingefechten kommt.
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"Aktionstage Politische Bildung" ab 27. April
Ganz im Zeichen der Politischen Bildung soll die Zeit vom 27. April bis zum 15. Mai stehen. Österreichweit finden dabei Veranstaltungen zur Demokratieerziehung, Menschenrechtsbildung und Zeitgeschichte statt. Den zeitlichen Rahmen für die "Aktionstage Politische Bildung" bilden dabei zwei historische Daten: Der Jahrestag der Wiederherstellung der Republik am 27. April 1945 und jener der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags am 15. Mai 1955.
->   Mehr über die "Aktionstage"
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2) Politische Bildung als Meinungs- ...
Politische Bildung soll außerdem die Entwicklung von politischen Einstellungen, Meinungen und Werten unterstützen. Die politische Kultur als diesbezüglicher Grundkonsens ist für Bestand und Qualität einer Demokratie wichtiger als Details der Bundesverfassung.

Dazu zählen das Interesse an gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen, der Aufbau einer österreichischen politischen Identität unter Bezugnahme auf ein demokratisches Gemeinschafts-/Staats-, Politik- und Bürgerverständnis, die Anerkennung demokratischer Grundregeln und die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen bzw. Einstellungen.
... und Partizipationsförderung
Die politische Meinungsbildung ist zugleich Voraussetzung für die Teilnahme am politischen Diskurs. Weil Politische Bildung in Demokratien zugleich die Partizipationsfähigkeit fördern soll, muss sich politische Beteiligung als reelle Chance verstehen, die Entscheidungen der Politik zu beeinflussen.

Wie viele ÖsterreicherInnen wissen aber, wo und wie Versuche der Einflussnahme auf Regierungsvorhaben - etwa als Protest gegen eine momentan für das Fach Politische Bildung vorgesehene Kürzung von Unterrichtsstunden in der Schule - sinnvoll sind?
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Radio-Hinweise
Die Ö1-Dimensionen widmen sich am Montag, 28. April 2003, 19.05 Uhr unter dem Titel "Politik lehren, Demokratie lernen - Konzepte politischer Bildung in Europa" den "Aktionstagen für Politische Bildung". Ebenso die Radiosendung "Wissen Aktuell" mit dem Thema "Politische Bildung und demokratische Reife" (täglich von 28.4. bis 2.5.03, 13.55 Uhr, Ö1).
->   Radio Österreich 1
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Wenig ausgeprägte Direktdemokratie
Ein solches Wissen ist unabdingbar, denn in Österreich gibt es lediglich eine sehr gemäßigte Direktdemokratie. Das aktuelle Beispiel der Pensionsreform zeigt es: Volksabstimmungen werden "von oben" (durch einen Parlamentsbeschluss) veranlasst, und können nicht "von unten" (durch Unterschriften einer bestimmten Zahl von BürgerInnen) erzwungen werden.

Auch Volksbegehren münden nicht unmittelbar in politische Entscheidungen, sondern bedürfen zusätzlich parlamentarischer Mehrheiten und dadurch einer Zustimmung der Regierungsparteien, die bislang selten gegeben war.

Welche Formen der politischen Beteiligung, abgesehen von Wahlen im Vierjahresrhythmus, sind daher effektiv? Dominiert jedoch das Gefühl der Ohnmacht - "Politiker (und Parteien) hören sowieso nicht auf uns kleine Leute" -, drohen Politikverdrossenheit, politische Apathie und politischer Zynismus.
3) Politische Bildung als Soziale Kompetenz
Wer die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung oder auch nur die Zahl der Nationalratsabgeordneten nach Parteien aufsagen kann, ist allein deshalb weder sonderlich politisch noch sehr gebildet, sondern bestenfalls ein Fachidiot.

Werden Jugendliche zum bloßen Auswendiglernen solcher Fakten gezwungen, ist das eine perfekte Methode, um Politikverdrossenheit zu fördern.

Politische Bildung bedeutet daher auch die Anregung von geistigen und sozialen Fähigkeiten, um das gelernte Faktenwissen im privaten und beruflichen Alltag anwenden zu können. Eine Schularbeit über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu bestehen, ist ungenügend, wenn nicht zugleich im schulischen Umfeld Toleranz gelebt wird.
Verantwortung übernehmen, Urteilsfähigkeit entwickeln
Zur Klarstellung: Soziale Kompetenz kann nur im Zusammenwirken mit dem gelernten Faktenwissen wirksam werden. "Sind wir alle nett zueinander!" ist ein ehrenwerter Grundsatz, doch fehlt für seine Umsetzung beispielsweise das Wissen, wo Menschenrechtsverletzungen eingeklagt und geahndet werden.

Entscheidend ist jedoch der Bereich Soziale Kompetenz als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, eine Urteilsfähigkeit zu entwickeln und unter vorgegebenen und/oder eigenständig entwickelten Politikoptionen auszuwählen. In Konfliktfällen divergierender Optionen sind friedliche Lösungen des Widerspruchs anzustreben.
Kooperations- und Koalitionsbereitschaft
Ein Funktionieren politischer Partizipation ist von der Kooperations- und Koalitionsbereitschaft abhängig, weil das Beharren auf Entweder-/Oder-Standpunkten zur Entscheidungsunfähigkeit führen oder in autoritäre (Mehrheits-)Entscheidungen ohne Berücksichtigung von Minderheitsrechten münden kann.
Wie kritisch darf Politische Bildung sein?
Inhaltlich hat Politische Bildung anstatt eines linear-missionarischen Gedankens, der etwa im Rahmen der Re-Education-Programme nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durchaus Berechtigung hatte, zwei "Mittelwege" zu finden, um sich als seriöser Bildungsbereich (weiter) zu etablieren.
Neubewertung politischer Institutionen
1) Erforderlich ist eine Neubewertung politischer Institutionen als Mittelweg zwischen Anti-Institutionalismus und blinder Institutionengläubigkeit.

Politische Bildung hat in modernen Demokratien nicht die Aufgabe, ein politisches System umzustürzen, darf jedoch auch nicht als Stabilisierungsfaktor des Bestehenden verkommen und institutionelle Veränderungen durch die Förderung eines blinden Autoritätsglaubens verhindern helfen.

In Österreich ist dieser Punkt insbesondere vor dem Hintergrund der (Selbst-)Definition als Konsensdemokratie sowie einer zum Teil durch Untertanenmentalität und die Tradition des Beamtenstaates geprägten politischen Kultur von Bedeutung.
Mittelweg zwischen Objektivität und Subjektivität
2) Erforderlich ist mehr Transparenz als Mittelweg zwischen scheinbarer Objektivität und übertriebener Subjektivität. Selbstverständlich dürfen Zielgruppen der Politischen Bildung weder manipuliert noch indoktriniert werden. Doch gesellschaftliche bzw. politische Themen, die aus Sicht der Wissenschaft kontrovers sind, müssen in der politischen Bildungsarbeit gleichermaßen kontrovers erscheinen.

Adressaten der Politischen Bildung müssen lernen, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.

Abzulehnen ist hingegen eine (Schein-)Objektivität, die für das Bildungssystem totalitärer Systeme charakteristisch ist, und eine offene Positionierung der Lehrenden verhindert, um - unter dem Vorwand sich auf "Fakten" zu beschränken - jedwede Diskussion und Kritik der Lehrinhalte unterbinden.
Aktuelles Betätigungsfeld: Politikwechsel 1999
Aktuelles und zugleich besonders kontroversielles Beispiel in Österreich war und ist die Bildung einer "schwarz-blauen" Bundesregierung nach den Nationalratswahlen 1999 und 2002, welche durch die Beteiligung der FPÖ als Koalitionspartner der ÖVP zu einer Polarisierung der politischen Auseinandersetzung führten, weil einerseits gegenüber der FPÖ Vorwürfe des Rechtspopulismus mit extremistischen Ansätzen erhoben werden, und andererseits eine rechtskonservative Regierungsmehrheit im Parlament mit vergleichsweise linksorientierten Oppositionsparteien - SPÖ und Grüne - konfrontiert ist.

Politische Bildung muss ein solches Thema als Konfliktfeld vermitteln, obwohl es vielleicht bequemer wäre, es auf die Zählung von Stimmenprozenten und Nationalratsmandaten zu reduzieren.
->   Aktionstage Politische Bildung
 
 
 
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