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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Politische Bildung in Österreich: Eine kritische Bestandaufnahme  
  Von 27. April bis 15. Mai werden erstmals in Österreich Aktionstage für Politische Bildung durchgeführt. Anlass für eine kritische Bestandsaufnahme: Erstens gibt es viele engagierte Menschen, die für die Politische Bildung großartige Arbeit leisten - in Schulen, in Einrichtungen der Erwachsenenbildung und im Bildungsministerium. Zweitens finden deren Leistungen häufig mit lächerlich geringen Mitteln im Rahmen ungenügender Strukturen statt, denn in mancher Hinsicht ist Österreich unverändert ein Politische Bildung-Entwicklungsland.  
Vergangenheitsbewältigung und Parteinähe als Defizite
Mängel der Politischen Bildung resultieren einerseits aus der sich 1945 durchsetzenden Annahme, dass Österreich ausschließlich Opfer des Nationalsozialismus war.

Daraus abgeleitet wurde die fehlende Notwendigkeit für eine Politik der politischen Resozialisierung. Die Besatzungsmächte bestimmten, anders als in der späteren Bundesrepublik Deutschland, weder Aufgaben für Politische Bildung noch forderten sie die Schaffung von Ressourcen und Institutionen.

Andererseits resultiert die Schwäche der Politischen Bildung aus einer Fragmentierung der österreichischen Zivilgesellschaft. Die politisch-weltanschaulichen Lager und nicht der Staat waren aus historischer Sicht Agenten der politischen Sozialisation. Eine solche geschah weniger in der Schule als in sozialistischen, katholischen oder deutschnationalen Familien bzw. entsprechenden Jugendverbänden, Kulturorganisationen und Freizeitvereinen.
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Politische Bildung: Was ist das?
Kaum ein Begriff ist in derartiger Form der Gefahr der Verallgemeinerung und Beliebigkeit ausgesetzt. Zur Politik zählen alle Institutionen, Prozesse und themenbezogenen Inhalte für die Regelung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Bildung beinhaltet sämtliche Formen der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Kann demzufolge Politische Bildung als Kombination der Begriffe Politik und Bildung alles und nichts sein?
->   Der gesamte Artikel von Peter Filzmaier in science.ORF.at
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Nach 1945 übernahmen die Parteien die Bildungsaufgaben
Nach 1945 übernahmen die Parteien diese Aufgabe, so dass die Politik die politische Bildungsarbeit der Parteien und nicht außerparteiliche Programme unterstützte. 1973 wurden Parteiakademien errichtet, denen relativ reichhaltige Mittel zur Verfügung standen.

Politische Bildung als SPÖ-, ÖVP-, FPÖ- oder später Grüne-Bildung fand in hohem Ausmaß gesellschaftliche Akzeptanz. Die Akademien - das Dr. Karl Renner-Institut der SPÖ, die Politische Akademie der ÖVP, die Freiheitliche Akademie und die Grüne Bildungswerkstatt - stehen für eine Politische Bildung, die sich als unkoordinierte Summe der Tätigkeit von Parteien versteht.

Unverändert sind gemeinsame Initiativen für Politische Bildung seitens der Parteien selten. Es wird versucht, an der politischen Bildungsarbeit beteiligte Personen und Organisationen einer Partei zuzuordnen. Fast alle Lehrenden und Lernenden haben gelegentlich das Farbenspiel erlebt, als schwarz, rot, blau oder grün (ab-)qualifiziert zu werden.
Anlass zur Hoffnung
Es besteht aber Anlass zur Hoffnung. In den siebziger Jahren wurde die Debatte um die Politische Bildung vor dem Hintergrund des Verdachts geführt, die mit absoluter Mehrheit regierende SPÖ wolle Politische Bildung ideologisieren.

Heute hat sich die Zahl der Parlamentsparteien erweitert und Koalitionsregierungen sind zum Regelfall geworden. Die Lagermentalität ist weitgehend verschwunden, und die Vorstellung, dass Politische Bildung die bloße Addition von Parteiakademien sein könnte, hat im gesellschaftlichen Bewusstsein keine Deckung mehr.
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Politische Bildung als Randthema der Erwachsenenbildung
1977 wurde das Österreichische Institut für Politische Bildung in Mattersburg eingerichtet, jedoch am Beginn der neunziger Jahre geschlossen. Seitdem werden über den Gründerverein des Instituts, die Österreichische Gesellschaft für Politische Bildung, bescheidene Mittel für Projekte vergeben. Das Informationszentrum Politische Bildung bietet Serviceleistungen.

Politische Bildung ist für das Selbstverständnis der Institutionen der Erwachsenenbildung (Volkshochschulen, Volksbildungswerke, konfessionelle Bildungswerke, Bildungshäuser und Büchereien) ein bestimmendes Moment, findet aber kaum entsprechende Resonanz. Eine Statistik der begehrtesten Weiterbildungsthemen wurde 2002 vom Bereich "EDV" angeführt (37 Prozent), gefolgt von Sprachen (24 Prozent). Geistes- und Gesellschaftswissenschaften lagen mit sechs Prozent der Nennungen als Thema an letzter Stelle, schlechter als handwerkliche Tätigkeiten bzw. Musik und Malerei platziert. Nachdem Politische Bildung nur einen Teil der Gesellschaftswissenschaften ausmacht, ist der marginale Stellenwert offensichtlich.
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Politische Bildung als Kuriosum im Schulwesen
Politische Bildung existiert seit 1978 als Unterrichtsprinzip. Das bedeutet die Berücksichtigung in allen Schultypen und Unterrichtsfächern. Doch muss Politische Bildung mit 13 Unterrichtsprinzipien konkurrieren. FachlehrerInnen, die zusätzlich den jeweiligen Lehrplänen alle Prinzipien von der Medien- über die Verkehrs- bis zur Sexualerziehung behandeln, sind eine Unmöglichkeit.

In der Schulpraxis ist dadurch die Umsetzung sehr unterschiedlich. Obwohl in neuen Lehrplänen nicht mehr angeführt, legitimiert das Unterrichtsprinzip aber engagierte Projekte. Es wäre gefährlich, die vielfältigen und interdisziplinären Inhalte der Politischen Bildung in wenige Wochenstunden eines Faches einzusperren.
Politische Bildung als Unterrichtsfach
Als Unterrichtsfach gibt es Politische Bildung an Polytechnischen Schulen, Berufsschulen und - mit unterschiedlichen Namenskombinationen (zum Beispiel Wirtschaftliche Bildung, Rechtskunde und Politische Bildung an HTL) - an den Berufsbildenden Mittleren und Höheren Schulen (BMHS). In Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) wurde mit Beginn des Schuljahres 2001/2002 für die Oberstufe das Fach "Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung" eingeführt.

Die Einführung eines Pflichtfaches Politische Bildung für die AHS-Oberstufe als einstimmiger Beschluss der Parlamentsparteien war ein Kompromiss, um ein dringendes Anliegen zu verwirklichen, und den kleinsten gemeinsamen Nenner (Verknüpfung mit Geschichte, d.h. eine beschränkte Stundenzahl und weniger Zeit für Kernfragen der politischen Bildungsarbeit) zu akzeptieren.

Das Bildungsministerium plante Politische Bildung für das Schuljahr 2002/03, doch fehlte in der Gesetzvorlage eine Jahreszahl. Das Fach musste daher unmittelbar nach dem Parlamentsbeschluss im Juni ab September 2001 unterrichtet werden. Es gab keinen Lehrplan, kein Schulbuch und keine LehrerInnenausbildung.
Politische BildnerInnen ohne Aus- und Fortbildung
Mit welcher Qualifikation wird Politische Bildung vermittelt? Für Politische Bildung gibt es kein Universitätsstudium, das für ein Lehramt vorbereitet. Es fehlt auch eine Ausbildung, die LehrerInnen für die Umsetzung des Unterrichtsprinzips Politische Bildung qualifizieren soll.

Im Fortbildungsbereich bildet nur der postgraduale Universitätslehrgang Politische Bildung/Master of Advanced Studies (MAS)-Civic Education-Programm des Instituts für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) eine Ausnahme.

Während MathematiklehrerInnen ohne Mathematikstudium Proteststürme auslösen würden, scheint im Bereich Politische Bildung nicht zu stören, dass nur engagierte LehrerInnen über eine freiwillige Zusatzqualifikation verfügen. Es besteht eine Bringschuld der Unterrichtsverwaltung, aber auch der Universitäten. Ein Wahlfachstudiengang Politische Bildung, der das frühere Zweitstudienfach ersetzt und 2002 an der Universität Innsbruck begonnen wurde, stellt einen ersten Schritt dar.
Traurige Zukunftsperspektiven
Das primäre Problem der Politischen Bildung in Österreich ist Apathie und nicht Parteilichkeit. Apolitische Lehrplanverwalter sind gefährlicher als LehrerInnen, die in Einzelfällen durch Überengagement zu sehr auf der Basis subjektiver Urteile arbeiten. So wichtig die Installierung von Politischer Bildung als Unterrichtsprinzip und -fach war, so gerne wird das als Alibi für spätere Untätigkeit genommen.

Von der Aufbruchstimmung vor zwei Jahren, als Politische Bildung an AHS als Fach eingeführt wurde, ist nichts mehr zu spüren. Ein Jahr lang gab es seitens des Bildungsministeriums zusätzliche Budgetmittel für eine Fortbildung der GeschichtelehrerInnen, 2003 wurden alle Seminare aus Geldmangel abgesagt.

In den Pädagogischen Instituten und an vielen Schulen bemühen sich EinzelkämpferInnen, von einer systematischen Schwerpunktsetzung für Politische Bildung ist nichts zu bemerken.
Gehrer-Plan: Eine Stunde weniger
Vor Beginn der Aktionstage endete die Begutachtungsfrist für das Wortungetüm einer "Wochenstundenentlastungsverordnung". Bundesministerin Gehrer plant, dem neuen AHS-Fach Politische Bildung vor seinem zweiten Geburtstag eine Stunde wegzunehmen, wodurch ohnehin verspätete Lehrpläne und Schulbücher weniger als ein Jahr nach ihrem Erscheinen veraltet sind.

Politische Bildung droht zur Beliebigkeitslehre zu werden, zu einer zufällig besseren oder schlechteren Aneinanderreihung zufälliger Inhalte. Unumgänglich sind eine Ausweitung des Schulfachs Politische Bildung neben dem Unterrichtsprinzip, eine Institutionalisierung in der Erwachsenenbildung und ein Studium.
->   Aktionstage Politische Bildung
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   "Aktionstage Politische Bildung" ab 27. April
->   Manfred Welan: Neue Zugänge zur Politischen Bildung (30.10.2002)
 
 
 
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