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ORF ON Science :  Peter Filzmaier :  Gesellschaft 
 
Wahlbörsen als Instrument der Meinungsforschung  
  In Vorwahlzeiten wie gegenwärtig in Tirol und Oberösterreich duellieren sich Meinungsforscher um die bestmögliche Prognose des Wahlergebnisses. Im Regelfall wird einem repräsentativen Querschnitt der Wahlberechtigen telefonisch die "Sonntagsfrage" gestellt, wie er/sie zu wählen beabsichtigt - und die erhaltenen Rohdaten für eine konkrete Vorhersage hochgerechnet. Eine alternative Methode für Prognosen sind Wahlbörsen, wie sie gegenwärtig zu den Tiroler Landtagswahlen unter http://wahlboerse.tirol.com seitens der Tiroler Tageszeitung und des Instituts für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung veranstaltet wird.  
Was ist eine Wahlbörse?
Wahlbörsen sind Aktienmärkte im Internet und zugleich ein Instrument der Meinungsforschung. Politikinteressierte können sich online anmelden und mit Aktien, die sich auf Stimmenanteile von Parteien beziehen, handeln. Die Händler versuchen auf der Börse Gewinn zu erzielen, aus den Aktienkursen der Parteien lässt sich die Prognose zum Ausgang der Wahl ableiten.
Wie funktionieren Wahlbörsen?
Die Mechanismen sind sehr einfach: Hält ein Händler eine Aktie für unterbewertet, so kauft er sie; hält er sie für überbewertet, so verkauft er. Liegt die ÖVP in Tirol beispielsweise bei "50", so bedeutet das, dass am Markt für die Landtagswahlen ein Wahlergebnis von 50 Prozent erwartet wird.

Vermutet ein Händler ein höheres Wahlergebnis, so kauft er die Aktie und kann bei steigenden Kursen bzw. einem höheren Wahlergebnis Gewinn machen. Die Summe aller Käufe und Verkäufe ergeben den Kurs der Parteiaktien und die Wahlprognose.
Kauf und Verkauf 24 Stunden täglich
Zu einem Kauf bzw. Verkauf kommt es am Markt, wenn Käufer und Verkäufer sich auf einen Preis einigen können. Die Händler machen nichts weiter, als ihre Kauf- und Verkaufsgebote anzugeben. Die Abwicklung des Handels erfolgt automatisch.

Die Gegenüberstellung der Kauf- und Verkaufsangebote bezeichnet man als beidseitige Auktion, die an Wahlbörsen 24 Stunden täglich stattfindet.

Ein ununterbrochener Handel über die gesamte Laufzeit - in Tirol ist vom 18. August bis zum Wahltag am 28. September - ist möglich, weil Wahlbörsen über das Internet computerisiert abgewickelt werden, ohne dass eine dauernde menschliche Betreuung nötig ist.
Vorteil: Repräsentativität nicht notwendig
Im Unterschied zu traditionellen Umfragen lautet die Frage, die sich jeder erfolgsorientierte Händler stellen muss, nicht "Was würden Sie wählen?" sondern "Was glauben Sie, werden alle anderen wählen?¿ Selbst ein Anhänger der Tiroler Grünen wird FPÖ-Aktien kaufen oder verkaufen, wenn er überzeugt ist, dass diese Partei unter- bzw. überbewertet ist, und umgekehrt.

Faszinierend ist daher, dass es im Unterschied zu Meinungsumfragen unerheblich ist, welches Geschlecht, Alter oder Einkommen die Händler aufweisen, weil diese nicht nach ihren persönlichen politischen Präferenzen handeln.

Neben der nicht notwendigen soziodemographischen Repräsentativität ist ein Vorteil der Wahlbörsen, dass es aufgrund der freiwillig teilnehmenden Händler nicht wie in Interviews Unentschlossenheit und/oder Antwortverweigerung gibt. Im Unterschied zu Umfragen existiert auch keine von der Größe einer Stichprobe abhängige Schwankungsbreite.
Nachteil: Manipulationsgefahr
Ein Nachteil von Wahlbörsen ist die Manipulationsgefahr. Sowohl Händler, die als "Kartell" Absprachen treffen und sich wechselseitig Kursgewinne verschaffen möchten, als auch parteipolitisch motivierte Teilnehmer, die ohne Rücksicht auf Geldverluste den Kurs einer Partei verbessern oder verschlechtern möchten, sind denkbar.

Durch ein gutes Marktdesign, einen liquiden Handel und regelmäßige Marktbeobachtung kann aber die Gefahr nachhaltiger Verzerrungen weitgehend ausgeschlossen werden.
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Marktdesign und Ranking der Händler
Die Wahlbörse zu den Tiroler Landtagswahlen ist als Stimmenanteilsmarkt konzipiert, d.h. Auszahlungen zu Börsenschluss am Wahltag erfolgen entsprechend den Stimmenanteilen der Parteien bei der Wahl. Erzielen beispielsweise ÖVP, SPÖ, Grüne und FPÖ 50, 25, 15 und 10 Prozent der Stimmen, so erhält man für eine ÖVP-Aktie 50 Werteinheiten, für eine SPÖ-Aktie 25, für eine Grün-Aktie 15 und für eine FPÖ-Aktie 10 Werteinheiten.

Im Tiroler Fallbeispiel wird jedoch nicht mit echtem Geld gehandelt, sondern alle Teilnehmer erhalten ein Spielkapital in Wahldollars. Täglich wird aber ein Ranking errechnet. Hier können Händler feststellen, wie gut sie im Vergleich mit anderen bisher gehandelt haben. Der Vergleichswert ist die Rendite. Das Ranking der Händler in Prozent der Rendite nach Marktschluss der Wahlbörse stellt das Ergebnis für die Gewinnausschüttung dar.
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Sachpreise statt Geldgewinne
Nachdem auf österreichischen Wahlbörsen mit virtuellem Geld gehandelt wird, gibt es keine Auszahlung der Rendite bzw. keinen echten Geldverlust der Händler. Nach dem Ranking werden aber für die bestplatzierten Händler und durch Verlosung für alle Händler mit positiver Rendite Preise ausgeschrieben.

Solche Sachpreise sind von Bedeutung, weil sie alle Händler zu seriösem Verhalten motivieren. Eine zu große Zahl inaktiver oder nur spielerisch tätiger Händler - bei einem Echtgeldeinsatz von bis zu 5.000 US-Dollar wie in den USA kaum vorkommend - würde die Prognosegenauigkeit verringern.

Wahlbörsen sind kein Wundermittel, doch betrug in Österreich seit 1994 auf Wahlbörsen die Abweichung der Prognose vom Wahlergebnis nur zwischen 0,9 und 3,1 Prozent.
->   wahlboerse.tirol.com
->   Tiroler Tageszeitung
->   Institut für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung
->   Sämtliche Beiträge von Peter Filzmaier in science.ORF.at
 
 
 
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